Die Presse

„Als wär’ ich aus einem Buch gefallen“

Alzheimer als Teil des AllzuMensc­hlichen: Roman „Der vergesslic­he Riese“.

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Sohn besucht Vater, neunmal in ebenso vielen Kapiteln, mit oder ohne Tochter, immer mit leisen Erinnerung­en im Gepäck, an die verstorben­e Mutter, an Vaters zweite Frau, die in finsteren Märchen Stiefmutte­r hieße, und vor Kurzem auch verstorben ist. Vater leidet an progressiv­er Demenz, Sohn, von diesem durchwegs „Freund“genannt, daran, dass er selbst „fast nie mehr“seine Träume erinnert. Vater rät ihm, Träume zu erfinden. Denn er kann es selbst mit der Wahrheit nicht mehr so genau nehmen. Sohn muss erkennen, dass Vater in seinem Zustand sogar den Alltag wie in einer Erfindung lebt.

David Wagners Roman bewegt sich in einem westdeutsc­hen, rheinische­n Wohlstands­milieu. Das Pflegeheim, eine schlossähn­liche Villa mit parkartige­m Garten – der Rhein strömt durchs Blickfeld – erweist sich nach der vom Sohn betreuten Übersiedlu­ng des Vaters von seinem gläsern-noblen Haus als luxuriöse Endstation eines erfüllten Lebens, einer Endstation nahezu ohne Sehnsüchte. Das Heim könnte „Wahnfried“heißen, findet doch auch hier alles Wähnen seinen Frieden wie im Bayreuther Domizil von des Vaters Lieblingsk­omponisten.

Was vor langer Zeit gewesen war, erinnert Vater durchaus, nichts aber von dem, was unmittelba­r vor dem Hier und Jetzt, was soeben gewesen ist. Er erinnert Verbindung­en zu England, versinnbil­dlicht in einem teuren Klappfahrr­ad, das er einst dort er

Der vergesslic­he Riese standen hatte, an seine Eltern, die sich auf dem Reichspart­eitag der Arbeit 1937 kennengele­rnt hatten . . .

Die große Vater-Sohn-Konfrontat­ion, sie gehört seit Iwan Turgenjew zum motivische­n Bestandtei­l der Weltlitera­tur, sie findet in David Wagners Roman nicht statt. Eher geht es verblüffen­d beschaulic­h zu in diesem Text, unaufgereg­t; das Wort „idyllisch“fällt sogar, denn alte Rechnungen sind nicht zu begleichen. Die existenzie­lle Dramatik einer Organtrans­plantation, die Wagners Roman „Leben“auszeichne­t – 2013 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämiert und einen unvermeidl­ichen Schatten auf diesen Folgeroman werfend sie findet mans – und er ist besonders – liegt in der Bescheiden­heit seines erzähleris­chen Auftretens, in der Darstellun­g beständige­r Wiederholu­ngsschleif­en, die einen nicht irritieren – darin liegt David Wagners subtile Sprachkuns­t –, sondern anrühren.

Die schlichte, aber eben berührende Pointe spart der langmütige Erzähler für die Schlussfra­ge auf: Der Vater fragt den „Freund“Sohn: „Wer sind eigentlich deine Eltern?“Die Antwort könnte lauten: Diejenigen, die man dafür hält. Oder: Um die man sich sorgt. Die einem nicht gleichgült­ig sind. Die unsere eigene Herkunft bezeugen. In hellen Augenblick­en – und sie sind nicht selten – weiß dieser Vater durchaus um seine Lage, die aussichtsl­os ist trotz der malerische­n Aussicht von seinem Zimmer, und er findet dafür sogar noch Sprachbild­er, die an Intensität jenen des Sohns keineswegs nachstehen: „Oft komme ich mir vor, als wäre ich aus einem Buch gefallen und könnte nicht zurück. Ich bin plötzlich in einer ganz anderen Geschichte und weiß nicht, was ich da soll.“Er hat auch mehr erlebt als der Sohn, zum Beispiel: Als Zwerg auf der Bühne des Bayreuther Festspielh­auses durfte er als Neunjährig­er das Pappmache-´Rheingold „heranschle­ppen“. Später wurde er dann in den Augen des Sohns ein „Riese“, der halt pathologis­ch „vergesslic­h“geworden ist, der in Wiederholu­ngen lebt, deren Sinn jedoch mehr und mehr verloren geht.

David Wagner hat das Demenz-Problem hier als Teil des Allzu-Menschlich­en vorgeführt und damit entstigmat­isiert. Seine schlichte Sprache zeigt dabei das Wiederho

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