Beim Brexit ist kein Ende in Sicht
Aus britischer Sicht. Die Festlegung der britischen Regierung auf ein rasches Ende der Übergangsfrist am 31. Dezember 2020 lässt nur wenig Raum für Vereinbarungen über ein weitreichendes Handelsabkommen.
Was alles Inhalt dieser Vereinbarung sein soll und kann, ist bisher ebenfalls nicht bestimmt. Johnsons Festlegung hat den Spielraum aber eingeschränkt. Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, spottete bereits: „Wenn Boris Johnson eine sehr ehrgeizige Vereinbarung will, dann brauchen wir eine sehr ehrgeizige regulatorische Übereinstimmung. Nur zu. Es ist einfach.“Aus der EU austreten, aber mehr oder weniger in der EU bleiben wollte May. Sie ist gescheitert.
Johnson will das nicht. Was er genau will, bleibt vorerst unklar. Die politische Erklärung, die das Austrittsabkommen ergänzt, bleibt zu den Details der künftigen Beziehungen zwischen London und Brüssel vage. Allein der knappe Zeitrahmen wird dafür sorgen, dass in den kommenden Monaten, wenn überhaupt, nur ein Minimalabkommen vereinbart werden kann: Der Ökonom und frühere May-Berater Raoul Ruparel spricht von einer „seichten und schmalen künftigen Beziehung“, die man bestenfalls werde aushandeln können.
Inhalt einer derartigen Minimalvereinbarung könnte ein reines Freihandelsabkommen sein. London will den tarif- und quotenfreien Handel zwischen Großbritannien und der EU retten. Die Union will dafür eine Verpflichtung auf „gleiche Spielregeln“:
Dazu gehört, dass britische Unternehmen auch nach dem Brexit weiter den Umweltund Arbeitnehmerschutzregeln der EU folgen. Verhindern will man aber auch den Traum mancher britischer Brexit-Hardliner von einem „Singapore-on-Thames“durch aggressive Steuerkürzungen, Wettbewerbsbestimmungen und Subventionen. Johnson hat wiederholt klargemacht, dass er einen der Vorteile des Brexit darin sieht, das Füllhorn staatlicher Gaben nun wieder nach Belieben ausschütten zu können.
Eine reines Freihandelsabkommen würde zudem technische Fragen wie die Ursprungsregeln, Direktinvestitionen, gegenseitige Anerkennung von Zertifizierungen, Bestimmungen über die Niederlassung von Arbeitnehmern und – eventuell – eine Einigung über Fischereirechte enthalten. Für derartige Vereinbarungen gibt es Vorbilder.
Der in modernen Volkswirtschaften wesentlich dominantere Dienstleistungssektor – in Großbritannien werden hier 80 Prozent des BIP geschaffen – bliebe aber unberührt. Die politische Erklärung sieht nur einen sehr eingeschränkten Austausch in diesem Bereich vor und setzt statt auf detaillierte Abkommen auf gegenseitige Anerkennung („equivalence“). Kein anderer Sektor muss daher den künftigen Entwicklungen mehr entgegenzittern als die Finanzbranche: Nicht nur ist die City of London der zweitgrößte Finanzplatz der Welt nach New York, Großbritannien erwirtschaftet bei den Finanzdienstleistungen gegenüber der EU einen Überschuss. Längst wittern Konkurrenten wie Paris, Dublin oder Frankfurt Morgenluft, und seit dem Brexit-Referendum 2016 sind aus der City nach Schätzungen von Experten etwa eine Billion Pfund an Assets abgeflossen. Zudem hat die Finanzbranche kaum politische Schützenhilfe. Zugleich ist London aber auch der größte Kapitalmarkt für europäische Unternehmen: Allein im Vorjahr wurden hier Bonds von mehr als 3,5 Billionen Dollar begeben.
Ebenfalls ungeregelt oder nur am Rand berührt wäre mit einem Minimalabkommen der Bereich des Datenaustauschs. Derzeit gilt auch für Großbritannien die Datenschutzgrundverordnung der EU (GDPR). Im Flugverkehr hat man sich bereits im Vorfeld eines drohenden harten Brexit auf provisorische Regeln geeinigt, die den bilateralen Verkehr sicherstellen. Sollten aber britische Fluglinien auch in Zukunft Flüge innerhalb der EU anbieten wollen, muss das erst ausverhandelt werden.
Nicht in ein Freihandelsabkommen bis Ende 2020 zu bekommen sind nach Ansicht von Experten Fragen wie Energiepolitik, gegenseitige Nostrifizierung, Grundfreiheiten des Binnenmarkts, geistiges Eigentum, Atomenergie und Güterverkehr auf der Straße. Die Fischerei ist politisch in Großbritannien hochbrisant, seit sie von Premier Johnson zu einem Symbol der nationalen Wiedergeburt hochgejazzt wurde. Einen noch höheren Fetischcharakter hat für London der Europäische Gerichtshof, dessen Jurisdiktion man nur höchst eingeschränkt (und vorzugsweise unter der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle) hinnehmen will.