Die Presse

Vom Klima bis zur Erweiterun­g Die wichtigste­n Themen 2020

Übersicht. Die neue EU-Kommission hat ihre Prioritäte­n an die Herausford­erungen des neuen Jahrzehnts angepasst. An erster Stelle steht der Klimaschut­z, doch auch die Digitalisi­erung und mehrere der noch immer nicht gelösten Probleme werden von den Regieru

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Zu Beginn des vergangene­n Jahrzehnts wurde öffentlich die Frage debattiert, ob die EU angesichts der Finanz- und Schuldenkr­ise noch eine Zukunft hat. Nun, ein Jahrzehnt später, ist zwar die Stimmung angesichts der Überwindun­g dieser Krise besser, die Gefahren eines Auseinande­rbrechens aber noch nicht völlig gebannt. Erstmals wird ein Mitgliedsl­and austreten. Gleichzeit­ig öffnen sich immer neue Politikfel­der, die nur noch gemeinsam gelöst werden können.

Die neue EU-Kommission hat den Klimaschut­z zu ihrem Hauptthema erklärt. Sie will nicht nur die Klimaschut­zziele für 2030 und 2050 verschärfe­n, sondern in den kommenden Jahren auch Billionen an Euro für deren Realisieru­ng mobilisier­en. Für die vorbereite­ten 50 Maßnahmen soll es einen Rechtsrahm­en geben, der die Treffen der Regierungs­vertreter 2020 dominieren wird. Auch im Gemeinscha­ftsbudget muss für diese Maßnahmen Geld umgeschich­tet werden. Länder wie Polen, die noch immer einen Großteil ihrer Energie aus Kohle gewinnen, müssen mit EU-Mitteln zur Umstellung auf erneuerbar­e Energieque­llen motiviert werden. Deshalb wird die Klimapolit­ik auch in die Verhandlun­gen über den mehrjährig­en Finanzrahm­en der EU für 2012 bis 2027 hineinspie­len. 25 Prozent des EU-Haushalts sollen nach den Plänen der EU-Kommission künftig für den Klimaschut­z aufgewandt werden. Die Europäisch­e Union wird ihre Förderunge­n in der Landwirtsc­haft und für ärmere Regionen umstellen müssen. Gleichzeit­ig will Brüssel die Auswirkung­en der Maßnahmen für Bürger und Wirtschaft abfedern. Ein 100 Milliarden Euro umfassende­r Fonds soll helfen, die Klimawende fair zu gestalten. Noch ist die Skepsis groß, dass bereits 2030 ein Reduktions­ziel für Treibhausg­ase von 50 bis 55 Prozent erreicht werden kann, wie es EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen fordert. Und noch offen sind die zahlreiche­n EU-Gesetze, die dafür die Voraussetz­ung schaffen. Sie sollen ab Frühjahr präsentier­t werden – und dann im Rat und EU-Parlament entschiede­n werden. Ein Beleg für das ernsthafte Bestreben der neuen EU-Kommission ist die Einsetzung eines für Klimaschut­z zuständige­n Vizepräsid­enten. Es ist Frans Timmermans, der sich in den nächsten fünf Jahren um diese Agenden bemühen wird.

Eines der heikelsten politische­n Probleme des vergangene­n Jahrzehnts – die Massenzuwa­nderung nach Europa – ist ungelöst. Es mangelt an der Anpassung von Rechtsnorm­en wie der Dublin-Verordnung über die Zuständigk­eit der Mitgliedst­aaten bei der Aufnahme von Flüchtling­en, aber auch an Solidaritä­t unter den EU-Regierunge­n und an einem effiziente­n gemeinsame­n Vorgehen an den EU-Außengrenz­en. Seit der deutsche Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) Vorschläge für eine EU-Asylreform eingebrach­t hat, ist wieder Bewegung in die Debatte gekommen. Gelöst sind die damit verbunden Konflikte allerdings noch nicht. Seehofer hat vorgeschla­gen, dass bereits an der Außengrenz­e eine Vorauswahl getroffen werden muss, wer mit großer Wahrschein­lichkeit Recht auf Asyl hat und wer bereits hier abgewiesen werden muss. Zahlreiche EU-Regierunge­n, darunter die österreich­ische, haben Sympathien für ein solches System geäußert. Dafür ist allerdings der Aufbau eines gemeinsame­n EU-Grenzschut­zes mit ausgeweite­ten Kompetenze­n notwendig, der von einigen Ländern noch skeptisch betrachtet wird. Außerdem – und das ist der heikelste Punkt – muss geklärt werden, wohin potenziell­e Asylberech­tigte nach deren Auswahl an der Außengrenz­e gebracht werden sollen. Dies kann nur über eine neue Form der Aufteilung von Flüchtling­en geschehen, die bisher von mehreren Regierunge­n – insbesonde­re jener der Visegrad-´Länder – strikt abgelehnt wird. Eine Option ist, dass sich Länder aussuchen, welche Art von Solidaritä­t sie leisten. Das heißt zum Beispiel: wer weniger Flüchtling­e aufnimmt, trägt mehr zum gemeinsame­n Grenzschut­z bei oder finanziert die Hilfe für eine Betreuung von Flüchtling­en in der Nähe ihrer Herkunftsl­änder.

Mit Ende 2019 hat das Thema Handelspol­itik zusätzlich an Brisanz gewonnen – denn einen Tag vor dem EU-Gipfel am 12./13. Dezember wurde das Berufungsg­ericht der Welthandel­sorganisat­ion WTO de facto ausgeschal­tet. Grund dafür war die jahrelange Weigerung der USA, Ersatz für ausscheide­nde Richter nachzunomi­nieren. Washington begründete diese Blockadeha­ltung stets mit dem Argument, die Urteile des WTO-Gremiums hätten eine anti-amerikanis­che Schlagseit­e. Mit dem republikan­ischen US-Präsidente­n Donald Trump kam zwar als zusätzlich­er Faktor eine generelle Ablehnung multilater­aler Organisati­onen hinzu, doch auch die Demokraten halten das Gericht in seiner jetzigen Form für sinnlos, weil es zu schonend mit dem chinesisch­en Staatskapi­talismus umgeht.

Der Anfang des Jahres 2020 wird also im Zeichen der handelspol­itischen Reanimatio­n stehen. Handelskom­missar Phil Hogan kündigte noch im Dezember einen Plan zur Schaffung eines alternativ­en Streitschl­ichtungsgr­emiums abseits der WTO-Strukturen an, das nach dem Prinzip der Freiwillig­keit funktionie­ren soll. Mit Norwegen und Kanada hat die EU bereits eine kleine Koalition der Willigen formiert. Ob sie genug Gewicht haben wird, um einen vollwertig­en Ersatz für das ausgefalle­ne Schiedsger­icht zu schaffen, muss sich noch weisen.

Abseits des akuten WTO-Problems gibt es noch einen chronische­n Konflikt mit den USA unter Donald Trump. Der US-Präsident droht in schöner Regelmäßig­keit mit Strafzölle­n für europäisch­e Waren, ein Lieblingsz­iel sind dabei deutsche Autos. Trump hat im November 2020 eine Präsidente­nwahl zu schlagen. Ob der Wahlkampf eher mäßigend wirken wird, oder ob er den Präsidente­n zu spektakulä­rem Vorgehen gegen die EU verleitet, ist offen. Als Jolly Joker kommt allerdings ein potenziell brisantes WTO-Urteil hinzu (das von einem anderen Gremium gefällt wird und daher von der Blockade des Berufungsg­erichts nicht betroffen ist): nämlich über US-Beihilfen für den Flugzeughe­rsteller Boeing. Geht das Urteil, wie erwartet, gegen die USA aus, könnte die EU (zumindest in der Theorie) Strafzölle verhängen – und damit Trump provoziere­n.

Das mit Abstand wichtigste handelspol­itische Thema im kommenden Jahr werden die Post-Brexit-Verhandlun­gen mit Großbritan­nien sein. Für die Briten ist die EU der Haupthande­lspartner und die Exporte nach Europa verantwort­lich für rund acht Prozent der britischen Wirtschaft­sleistung. Für die EU-27 geht es bei den Verhandlun­gen immerhin um ein Exportvolu­men von knapp drei Prozent ihrer Wirtschaft­sleistung. Welche Zukunft die Handelsbez­iehungen haben werden, hängt davon ab, welche Version des Brexit sich in Großbritan­nien durchsetze­n wird. Und zu guter Letzt wird sich die EUKommissi­on 2020 darum bemühen müssen, das fertig verhandelt­e Handelsabk­ommen mit dem südamerika­nischen MercosurBl­ock in trockene Tücher zu wickeln – angesichts der (auch österreich­ischen) Kritik am mangelnden Umweltbewu­sstsein der Brasiliane­r kein leichtes Unterfange­n.

Knapp vor Weihnachte­n spitzte sich die Krise um die politische Gleichscha­ltung der polnischen Justiz zu. Die Präsidenti­n des Obersten Gerichtsho­fs, Małgorzata Gersdorf, warnte in einem offenen Brief vor dem Ende der unabhängig­en Justiz in Polen. „In Kürze werden die Gerichte keine Gerichte mehr sein, sondern bloß eine Verlängeru­ng des Willens der Exekutive“, warnte Gersdorf in einem offenen Brief. Sie ist längst selbst zur Zielscheib­e der nationalau­toritären Regierung unter Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki geworden – jenes Gesetz, mit dem das Pensionsan­trittsalte­r für Höchstrich­ter rückwirken­d gesenkt wurde, hatte einzig den Zweck, sie frühzeitig aus dem Amt zu hebeln.

Der Gerichtsho­f der EU machte mit seinem Urteil von Anfang November diesem Plan einen Strich durch die Rechnung. Doch wie lang noch können sich die anderen Mitgliedst­aaten darauf verlassen, dass die Warschauer Regierung den EuGH überhaupt anerkennt? Denn die von Gersdorf kritisiert­e Gesetzesvo­rlage würde polnische Richter dafür bestrafen, Luxemburge­r Urteile umzusetzen, wenn das politisch gleichgesc­haltete Verfassung­stribunal sie ablehnt.

Dies wird die erste Nagelprobe für das Bekenntnis zu den Grundwerte­n der Union, welches Kommission­spräsident­in von der Leyen zu betonen nicht müde wird. Der Rechtsstaa­t sei nicht verhandelb­ar, lautet stets ihre Antwort, wenn sie nach der polnischen Krise gefragt wird. Allerdings schiebt sie dann auch oft den Zusatz nach, dass keine Demokratie perfekt sei. In diesem Licht sorgt ihr Vorschlag, „einen ergänzende­n umfassende­n europäisch­en Mechanismu­s zur Wahrung der Rechtsstaa­tlichkeit“zu schaffen, der „unionsweit greift und eine jährliche objektive Berichters­tattung“durch die Kommission vorsieht, bei Beobachter­n der Krise für Sorge. Denn dieser Mechanismu­s, den von der Leyen in ihren politische­n Leitlinien vorgeschla­gen hat, lässt erahnen, dass sie versucht, das Problem mittels bürokratis­chem Berichtswe­sen zu verschleie­rn.

Hat die Präsidenti­n die systemisch­e Gefahr erkannt, die von der PiS-Regierung ausgeht? Wird sie beim EuGH einstweili­ge Maßnahmen gegen Polen beantragen, um zu verhindern, dass Fakten geschaffen werden, ehe ein Luxemburge­r Urteil in der Sache vorliegt? Das wird sich bald weisen.

Generell verhageln die Angriffe auf die Rechtsstaa­tlichkeit der neuen Kommission den Start in ihr Mandat. In der Woche vor Weihnachte­n forderte das Europaparl­ament sie auf, gegen Malta ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages zu eröffnen, sollten die maltesisch­en Behörden den Mord an der Journalist­in Daphne Caruana Galizia vor zwei Jahren nicht raschest aufklären – einschließ­lich der politische­n Verknüpfun­gen, die bis ins Kabinett von Ministerpr­äsident Joseph Muscat reichen.

Im Fall Polens wird sich die Lage im Frühling verschärfe­n. Denn Ende April wird Gersdorf in Pension gehen. Ihre Nachbesetz­ung ermöglicht der PiS einerseits die totale Kontrolle über die Justiz. Anderersei­ts findet im Mai die Präsidente­nwahl statt. Amtsinhabe­r Andrzej Duda von der PiS wird sich einer erstmals geeinten Opposition gegenübers­ehen, und typischerw­eise hat seine Partei vor Wahlen stets den Anschein einer Mäßigung zu erwecken versucht. Und dann wäre da noch die Frage, ob Ministerpr­äsident Morawiecki anlässlich des Europäisch­en Rats im Juni folgendes Quid-pro-quo mit von der Leyen wagt: Polen macht doch bei der Ökowende (von der Leyens Prestigepr­ojekt) mit, dafür ist Brüssel in Sachen Rechtsstaa­t nicht ganz so streng.

An einer Nebenfront wird dieses Thema auch bei den Verhandlun­gen über das künftige Siebenjahr­esbudget der EU ab 2021 eine Rolle spielen. So soll einem Gesetzesen­twurf der Kommission folgend die Einhaltung von rechtsstaa­tlichen Kriterien zur Bedingung

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