„Man hat ja eine Standorttreue“
Grätzeltour. In Ottakring aufgewachsen, kannte Ferdinand Kolar sein Viertel genau. Bis er obdachlos wurde und seine Heimat quasi ganz neu entdeckte – auch als Arbeitsplatz.
Was ist wichtig in einer Stadt? Ob Tourist, Einheimischer, Kind, Architekturfan, Shopaholic, Obdachloser ... was man wahrnimmt, hängt immer vom Blickwinkel ab. Ferdinand Kolar, gelernter Nachrichtentechniker, geriet durch die Krankheit seines Vaters, den er pflegte, und dadurch angehäufte Schulden in eine Negativ-Spirale und hat inzwischen einige Blickwinkel-Änderungen erlebt.
„Ich bin im 16. Bezirk im Grätzel Ottakringer Straße/Wattgasse/ Hernalser Hauptstraße aufgewachsen. Und für eine Gegend, in der man sich gut auskennt, entwickelt man so etwas wie eine Standorttreue“, meint Kolar. „Was in einer manchmal ausweglos scheinenden Situation hilfreich sein kann.“
Aber auch irritierend: „Man sieht die gleiche Gegend mit völlig anderen Augen, weil sich die Bedürfnisse radikal geändert haben.“Stammlokale wie das Cafe´ Ritter in der Ottakringerstraße oder das Gasthaus Brandstetter in der Hernalser Hauptstraße waren lange Zeit Orte, die er bestenfalls von außen betrachten konnte – sein Budget erlaubte keinen Besuch. Stattdessen führte ihn die Suche nach einem Schlafplatz oder einer Gelegenheit, sich tagsüber irgendwo aufhalten zu können „und die fundamentalen Grundbedürfnisse wie waschen, essen und reden zu stillen“, an Orte, die man sonst nicht beachten würde. In der Pfarre Neu-Ottakring etwa gibt es eine höchst unscheinbare Hintertür – hinter der sich ein Tageszentrum befindet.
„Tageszentren sind für Obdachlose – besser gesagt Wohnungslose, weil es den Begriff ,Obdachlose‘ im Gesetz nicht gibt – eminent wichtig“, erklärt Kolar. „Nicht nur, weil es hier Essen und Waschgelegenheit gibt, sondern auch, weil man sich hier anmelden kann.“Ohne Meldezettel werden staatliche Leistungen, wie etwa die Mindestsicherung, nicht ausbezahlt. Und man kann sich mit Leidensgenossen über Angebote für Kleidung, Nahrung oder medizinische Versorgung austauschen – etwa dem Arbeitersamariterbund in der Degengasse, der kostenlose medizinische Versorgung für Menschen in Not bietet, oder der Sozialmarkt in der Wilhelminenstraße, der Nahrungsmittel sehr günstig verkauft. „Hierher kommen viele, die typische alleinerziehende
Kassierin mit zwei Kindern, die Ausgleichspensionistin oder Bezieher der Mindestsicherung.“
Notschlafstellen und Tageszentren seien wichtig und sinnvoll, aber „kein Mensch kann, ohne etwas zu tun, acht Stunden herumsitzen“. Einkaufszentren und Möbelhäuser ergänzten daher die Landkarte Kolars. Aufwärmen, Toiletten benutzen und die Sonderangebote wahrnehmen, die Restaurants in großen Einkaufshäusern monatlich anbieten – „und sich wieder als Mensch fühlen.“
Genauso wichtig sieht Kolar den Kulturpass an, der freien Eintritt in die Museen ermöglicht, oder die Zentralbibliothek mit Zugang zu freiem Internet. „Damit man in dieser ganzen unerfreulichen Situation nicht auch noch verblödet.“Auch das Pensionistenheim „Haus der Barmherzigkeit“in der Seeböckgasse bekam essenzielle Bedeutung. „Ich habe dort manchmal in der Cafeteria ein Frühstück gegessen und dabei einige Bewohner kennengelernt, die mir mit kleineren Arbeiten geholfen haben, mein Budget aufzubessern. Das hat mich zu der Erkenntnis gebracht, dass man einen neuen Lebensplan entwerfen muss, nicht immer zurückschauen darf und lernen muss, entgegengestreckte Hände zu akzeptieren.“
Derzeit lebt Kolar in einer Übergangswohnung, versucht auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und ist als „Supertramp-Guide“(siehe Kasten) unterwegs – natürlich in seinem Grätzel: „Auch wieder ein neuer Blickwinkel.“