Bitte europäischer, ökologischer, leistungsstärker! Danke sehr!
2020 ist für Österreich und Europa ein Jahr der Weichenstellungen: Dem personellen Generationenwechsel müssen nun der inhaltliche und strukturelle Veränderungsprozess folgen.
Kurz sei ein Moment der Nostalgie erlaubt: Vor gar nicht allzu langer Zeit gab es eine Phase, die je nach Standpunkt entweder durch Langeweile oder Stabilität gekennzeichnet war. In Österreich wurde beklagt, dass die Sozialpartner zu ausgiebig über Lohnerhöhungen verhandeln oder dass das letzte Jahr einer Legislaturperiode wirklich nur noch zum Wahlkämpfen verwendet werde und nicht für Reformpolitik. Innerhalb der EU wurde darüber gestritten, wer viele Milliarden Agrarsubventionen bekommen sollte oder nicht beziehungsweise ob ein mehr oder weniger islamisch geprägtes Land wie die Türkei jemals Mitglied der EU werden könnte. Waren das Zeiten!
Heute wissen wir nicht einmal mehr genau, was eine Legislaturperiode ist, geschweige denn wie lang. (Fünf Jahre, was seit den vergangenen jährlichen Wahlen wirklich amüsant ist.) Die Sozialpartnerkoalition ist längst in den Geschichtsbüchern gelandet. Gestern regierten Sebastian Kurz und seine ÖVP mit der FPÖ, morgen mit den Grünen. Reformpolitik wie im Pensionsbereich ist längst etwas für sonderbar liberale Sektierer geworden und ebenfalls vergessen.
In der EU hoffen alle nach einem Jahrzehnt im Krisenmodus von Griechenland über Finanzen bis Brexit auf eine Erholungsphase. Unser EU-Spezialist Michael Laczynski meint in unserer Beilage „Europa vertiefen“anlässlich des 25-Jahr-Jubiläums des österreichischen EU-Beitritts: „Vor allem vor dem Hintergrund des für den 31. Jänner avisierten Abschieds Großbritanniens von Europa erscheint der Gedanke an ein ruhiges Jahr geradezu frivol. Doch ruhig kann 2020 durchaus werden – sofern die Sterne günstig stehen.“
An dieser Stelle sei mir ein weiterer kleiner Schritt erlaubt: Europa braucht diese Ruhe nicht etwa, um vermeintliche Wunden zu lecken, sondern um die Union einem (internen) Prozess der Generalüberprüfung und -überholung zu unterziehen. Dabei sollte es nicht nur um die ohnehin akut werdenden EU-Budgetverhandlungen gehen, sondern um eine umfassende politische und wirtschaftliche Inventur: Ist die Union wirtschaftlich und technologisch im globalen Wettbewerb schlagkräftig genug? (Nicht wirklich.) Und der scheinbare Widerspruch: Ist die Union der globale Vorreiter im Kampf gegen den bzw. im Umgang mit dem Klimawandel? (Nicht wirklich.) Ist Europa militärisch und politisch geeint, um ohne Briten und unabhängig von der transatlantischen Schutzmacht USA im weltpolitischen Machtspiel allein zu bestehen? (Ganz sicher nicht.) Das zu ändern sollte die zentrale Übung für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sein. Sie hat die Chance, die Nachfolgerin von Angela Merkel zu werden: die einflussreichste Frau der Welt. Deren minderbedeutende Nachfolge in Deutschland sollte 2020 endlich geregelt werden, sonst droht die wirtschaftspolitische Supermacht endgültig zu versiffen wie die Deutsche Bundesbahn.
In Österreich dürfte 2020 die neue türkis-grüne Ära beginnen, die natürlich auch wieder nur eine Zwischenepisode wie Türkis-Blau werden kann. Um dies zu verhindern, bedarf es in beiden Parteien Fähigkeiten, die in Österreichs Politik selten sind: Selbstdisziplin, Toleranz, Kompromissfähigkeit, Rücksicht und vor allem des langen Atems, nicht wegen jeder Twitter-Hysterie oder jedes Umfrageminus Kampfhaltung ein- und Abgrenzung vorzunehmen. Dass die beiden Parteien viel gemein haben, wird nicht einmal der schlichteste SPÖ-Sprecher behaupten können. G
elingt die Auflösung des scheinbaren inhaltlichen Widerspruchs durch Kurz und Werner Kogler, wird eine Koalition zwischen Konservativen beziehungsweise Christdemokraten und Grünen auch in anderen Ländern gewagt werden, allen voran in Deutschland.
Und um mich noch leicht aus dem Fenster zu lehnen: Großbritannien wird nach dem Brexit möglicherweise zu einem Kleinbritannien werden. Wirtschaftlich und steuerpolitisch wird es eine gefährliche bis wichtige Konkurrenz zur Europäischen Union werden. Auch wenn fast ganz Europa selbstverliebt und nicht nur weihnachtlich saturiert glaubt, dass Boris Johnson ein Clown ist. Ist er vielleicht auch – nur eben der klügste Clown, den Europa je gesehen hat. E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com
Gelingt es in Österreich, wird eine Koalition zwischen Konservativen und Grünen auch in anderen Ländern gewagt werden.