Wintersport wird sich wegen der Schneesicherheit von Europa entfernen
68. Vierschanzentournee. Der Schanzenklassiker startet in Oberstdorf ohne Winteridyll, der Tross negiert Zukunftsängste – die Bewerbe finden ja statt. Und: Ein Österreicher wird gewinnen.
Schon die Fahrt durch den idyllischen Allgäu bestätigte alle Bilder, Befürchtungen und Wetterfrösche: Rundum grüne Wiesen und maximal auf entfernten Bergen sah man schneeweiße Spitzen. Oberstdorf, der Auftaktort der Vierschanzentournee, kennt traditionell eben nur zwei Gesichter des Winters. Entweder gibt es Schneemassen – oder eben gar nichts. Dann geben sich die Organisatoren halt keinerlei Blöße und räumen, weil zu warme Temperaturen zudem die breite Produktion von Kunstschnee unterbinden, ihre letzten
Depots aus. Oder kratzen sie, besser gesagt, zusammen. Dass der Parkplatz beim Langlaufstadion nun einer Schlammgrube gleicht, stört Skispringer doch nicht im Geringsten.
Die 68. Vierschanzentournee ist also nicht gefährdet. Sie startet mit der heutigen Qualifikation
(16.30 Uhr, live,
ORF1) und dem Auftaktspringen am
Sonntag (17.30 Uhr, live, ORF1). Ob der Klimawandel jedoch langfristig dafür Rechnung tragen wird, dass der nordische Sport entweder komplett verschwindet oder ganz andere, weiter von Europa entfernte, weil schneesichere Orte wird suchen müssen, bleibt abzuwarten. Das Spektakel lebt weiter von seiner Tradition und Besuchern, die eventuell en gros mit Wintersport gar nichts am Hut haben.
Vielleicht ist dieser warme Winter ja nur eine schlechte Laune der Natur. Die an Perversion grenzende Idee manch Beteiligter, die in dieser Farbe für Wintersport zweifelsohne unspektakuläre Kulisse rund um die SchattenbergSchanze mit weißen Matten abzudecken oder womöglich der Atmosphäre wegen mit Schneekanonen am Bewerbstag zu bedienen, ist absurd. Daran dachte man bereits 2015, als fehlender Schnee Zukunftsängste schürte und nach Einfallsreichtum schrie. Oberstdorf ist ein beschaulicher Kurort, aber sicher nicht Disney Land.
Kekse am Schanzentisch
Dem ÖSV-Team schien die ganze Klimadiskussion jedenfalls beinahe entgangen zu sein. Beim üblichen Pressetermin zum Auftakt im
Hotel Oberstdorf waren eher „Mamas Kekserln“, die wenigen ruhigen Stunden daheim rund um Weihnachten oder die kribbelnde Erwartungshaltung die Gesprächsthemen der Adler. Natürlich, an dieser (nicht sonderlich innovativen) Frage gab es ebenso kein Umhinkommen. Wer denn die Tournee gewinnen könne, wurde Stefan Kraft gefragt, wer sein Favorit sei? Dass der Salzburger, 26, da diebisch grinste, passt zu seinem Naturell. 2015 stand der Pongauer schon ganz oben auf dem Podest, seine Formkurve zuletzt stimmte, nur der Sturz von Engelberg könnte ein Spielverderber sein.
Das Nervenkostüm dieser filigranen Athleten, die mit 90 km/h eine Anlaufspur hinunterfahren und in das Nichts abspringen, ehe sie nach knapp sieben Sekunden über 100 Meter weiter und zig Meter tiefer wieder landen, ist leichter verletzbar, als sie zugeben wollen. Kraft hielt dem entgegen, dass „mein Selbstvertrauen vor einer Tournee noch nie so groß war“.
Beobachter der Szene nennen freilich im Favoritenkreis auch Titelverteidiger Ryoyu Kobayashi, der Japaner gewann die vorangegangene Auflage mit Siegen auf allen vier Stationen wie vor ihm der Pole Kamil Stoch, der sich jetzt (Außenseiter-)Chancen ausrechnet. Deutsche Fans hoffen auf einen Durchbruch dieses Fluchs – schließlich hat seit Sven Hannawald (2002), dem Premierensieger als Grand-Slam-Springer, kein DSV-Athlet (Tipp: Karl Geiger) mehr gewonnen.
Flugkurven und Geldbörsen
Neben Kraft ist auch noch Jan Hörl eine nicht zu unterschätzende Größe, der mit Auftritt, Flugkurve (Podestplatz in Engelberg) und Unbekümmertheit ein wenig an
Thomas Diethart erinnert, der 2014 einen Sensationssieg landen konnte. Vielleicht aber geht einem Norweger (Daniel-Andre´ Tande, Marius Lindvik) der Knopf auf – keineswegs eine dreiste These. Gewinnt nicht Stoch die Tournee, jubelt am Dreikönigstags in Bischofshofen getrost ein Österreicher. Alexander Stöckl betreut Norwegen, Stefan Horngacher seit Sommer Deutschland, Andreas Felder ist ÖSV-Coach und Richard Schallert der Heimtrainer von Kobayashi.
Abgesehen vom Streben nach Ruhm spielt bei der Tournee, dem Highlight um den Jahreswechsel, auch Geld eine große Rolle. Neben den üblichen Prämien des Weltverbands FIS, der dem Tagessieger 10.000 Franken (8840 Euro) auszahlt und abgestuft die Top 30 entlohnt. Damit auch tunlichst jeder die Qualifikation bestreitet, wurden 5000 Euro für den Sieger ausgelobt. Und es gibt noch einen Bonus: Der Gesamtsieger erhält 20.000 Franken (18.368 Euro) und eine Trophäe – den goldenen Adler. Dass er dann über Wetter, Schnee und Klimawandel referieren wird, ist vollkommen ausgeschlossen.
Der wintersport wird sich in zukunft weiter von Europa entfernen, sich schneesicherere Orte suchen müssen.