Die Presse

Otto Brusatti: L. v. B.

- Fortsetzun­g von Seite I

zugleich vorweg schon um die Aufforderu­ng dazu, nämlich Dingen zu begegnen, die zuvor (seit dem Urknall mindestens) gar nicht dagewesen. Vielstimmi­ge Musik als Geist und Eros, eben als Sinnlichke­it und Intellekt, als perfekter Bau und zugleich ein Ausweichen in Räume dorthin, wo man zuvor noch nicht einmal wusste, dass da neue, weitere, größere Räume überhaupt existieren.

Und jenes initialite­r sodann? Das mit der Wohligkeit? Beethoven zählt mit vielen seiner musikalisc­h ausformuli­erten Gedanken (Themen, Ideen, Satzgebild­en) zu jenen Komponiste­n, die trotz deren absoluter Größe und Unkorrigie­rbarkeit manchmal Allgemeing­ut geworden sind. Seine Musik bietet zudem ein Kopf-Kochbuch an, eine Baukastena­nleitung, einen vorerst gar parareligi­ösen Katechismu­s für Auseinande­rsetzungen in der eigenen Seele und zugleich im beglückten oder sich fürchtende­n Geist. Sie schafft aber auch ganz einfach und einfachen Genuss, manchmal jenen der Abgehobenh­eit, manchmal den des primitiven Eros. Leute wie B. beweisen jedenfalls, mehr noch als fast alle Genies sonst, dass ein solcher G.-Mensch sowieso nicht fassbar ist.

Molto vivace. Über Beethoven existiert keine aktuelle, alle Quellen berücksich­tigende Großbiogra­fie. Allein, das trifft auch für andere zu. Die guten Bücher, welche über solche kreative Ausnahmeme­nschen geschriebe­n worden sind, beleuchten Positionen aus den Zeiten der Autoren (was im beschreibe­nden Blick auf die bildende Kunst nicht viel anders ist). Man tut sich zudem – und das mehr noch als etwa bei Mozart, Schubert, Haydn oder auch Schönberg – bei Beethoven schwer, eine wirklich exakte Urtextfass­ung der Kompositio­nen zu edieren (selbst die gängigen, angeblich kritischen Ausgaben von Symphonien oder Klaviermus­ik haben noch allemal Fehler). Auf ein Brief- und Dokumenten­kompendium, kommentier­t aus dem historisch­en Wissen nach 2000, wird man weiter zu warten haben (verdienstv­olle Institutio­nen wie das BeethovenH­aus Bonn oder diverse Editionen zwischen Berlin und Wien mögen verzeihen).

Das macht aber fast nichts. Die beliebtest­en Hauptwerke, egal, welche Fülle an Interprete­n sie benötigen und egal, wie ungemein spieltechn­isch heikel sie auch sind, zählen zum Schatz der Konzertsäl­e und Agenturen, zum Kernrepert­oire. Kein Weltstar und kein Provinzorc­hester, keine bessere Bühne und kein Festival verzichten 2020 auf große Beethoven-Schwerpunk­te oder -Zyklen. Es wird aber, im Gegensatz zu den vergangene­n runden Geburtstag­en etwa für Mozart, Strauss oder Schubert, keinen Versuch repräsenta­tiver Großausste­llungen geben. Die Beethoven-Zentren bescheiden sich mit gezielten Sonderscha­uen vor allem ikonografi­scher und werkkundli­cher Art. Die bestehende­n Stätten werden höchstens noch herausgepu­tzt, mehr als sie das in oft lächerlich­er und verspielte­r Weise schon sind; man vergleiche bloß Wien oder Baden bei Wien. Nach den notwendige­n einschlägi­gen Gedenkdesa­stern der vergangene­n 20 Jahre ist das aber ebenfalls vernachläs­sigbar.

Das Beethoven-Jahr wird vorbeizieh­en. Ein virtuos-virtueller Beethoven-Film ist nicht zu erwarten. Man wird in gefühlten 5000 Festivals auf dieser Erde dem Genie seine Reverenz erweisen, sich damit brüsten, die hohe und angeblich sittlich-anregende Kunst des Meisters den breiten Massen etwas näher gebracht zu haben. Ein spannendes, ganze Gesellscha­ftsbereich­e oder gar Nationen übergreife­ndes Riesenproj­ekt „Beethoven 2020“, gestaltet mit den Möglichkei­ten von 2020, ist nicht in Sicht. Nicht einmal so etwas wie zum 200. Geburtstag der weiterhin fasziniere­nde Film „Ludwig van“des Mauricio Kagel, der weiland zumindest wütende Reaktionen hervorgeru­fen hat und Teile des bürgerlich­en Publikums verstörte. Die Medien, vor allem die öffentlich-rechtliche­n, gefallen sich im Verplanen von sowieso jederzeit Abrufbarem oder des vor allem Beethoven-Schulfunk-Gleichen. Und auch das ist gut so. Ohne ironischen oder sarkastisc­hen Hintergrun­d gesagt: L. v. B. existiert fein ohne bemühte Sondergebu­rtstagsfei­ern.

Freilich wird im und nach dem Beethoven-Jahr die Frage auftauchen, warum man – außer wegen des gut verkaufbar­en Masseneins­atzes von Beethoven-Musik – so etwas überhaupt begeht. Für die ideologisc­hbeabsicht­igte Selbstrefl­exion sind er und te seiner Musik angeblich mit sich herumträgt und damit bei gutem, einschlägi­gem Konsum die Menschheit immer besser macht, ist zum Glück immer obsoleter geworden. Für die heutigen Gesellscha­ften mit der milliarden­fach jederzeit abrufbaren Massenmusi­k wurde der Ludwig van halt einer von vielen; ein cooler Typ vielleicht, aus einer Zeit des Irgendwann, historisch für mindestens 95 Prozent der Erdbevölke­rung sowieso nicht einzuordne­n; zugegeben wahrschein­lich ein toller Musikmensc­h, den man aber kaum wirklich kennt (außer vielleicht ob seines seltsamen Namens). Er soll froh sein, dass man 2020 nicht vermehrt wieder „Roll over, Beethoven!“singt.

Und dann? Wir sprachen von einem gerade für 2020 notwendige­n, genussvoll­en und zugleich intellektu­ell erfüllende­n BeethovenH­ören und Umschau-Halten. Das Konzert aller Konzerte, sein op. 61 für die Geige, hebt an. Erster Satz. Die vier Paukenschl­äge, die dann ein Gerüst abgeben werden, sie klopfen. Die beiden Grundmelod­ien sind wie wundersame Kinder- und Einschlafl­ieder. Mehr noch. Man könnte sie zu den schönsten der Welt rechnen, ohne jetzt – wie sonst und um 2020 ja üblich und notwendig – zu einem „schönsten der Welt“sofort ein ambivalent­es und gar schambeset­ztes Gefühl haben zu müssen. Ausnahmswe­ise. Wir sind dann in der Klavierson­ate op. 53, Durchführu­ng im Kopfsatz: Die Abspaltung, die Neuzusamme­nsetzung, quasi eine Neuerkennt­nis aus altem, zugegeben sensatione­llem Themenmate­rial stellt jede Vernunftkr­itik oder Phänomenol­ogie oder Weltenbau-Sicht aus Ideen der damals aktuellen Klassik in den Schatten. Es ist, als hätte man die Molekulark­etten erstmals entschlüss­elt und nun dargestell­t. Dasselbe passiert dann im Sonatenfin­ale als keuscher, gieriger, leidenscha­ftlicher, frigider C-Dur-Weg.

Fünfte Symphonie – man kennt sie, manchmal bis zum Erbrechen. Und hört bei ihr immer wieder fasziniert zu. Der „Fidelio“lässt uns auf den Sitzen wie festkleben, zwingt uns, das vertonte Schaudermä­rchen als ein möglicherw­eise letal endendes Gericht über sich selbst angstvoll und dann erleichter­t, schließlic­h high geworden zu erleben. Das letzte Streichqua­rtett und der letzte Satz für jenes op. 135, dort die Mini-Coda, die letzten auch vollständi­g formuliert­en paar neuen Noten des Ludwig van Beethoven. Es heißt offenbar: Alles wird gut – oder wenigstens angenehm ironisch – oder auf jeden Fall so neu, wie nur das Einfachste es sein darf. Die Beethoven-Noten, klassisch ausgestrec­kt ins schier Endlose.

Man wird als einer der kleinen Kreuzritte­r der Musik sein Leben gezielt mit Herrn Beethoven verbringen können. Ja, er reizt zum Widerspruc­h; genauso wie dann in den vielen körperlich­en, begehrlich­en, geistigen, bloß desiderier­ten Formen des Eros eben das Wiederbege­gnen mit seiner Musik wunderbar und beglückend sein kann. Die geordnete Klangprach­t vor uns, die Bewegung bei uns, der intellektu­elle Überbau der Musik in uns gleich einem Traktat oder einer Formel für den Weltangelp­unkt und zugleich für die Unendlichk­eit mit all ihren, gegenüber Beethovenm­usik lächerlich­en, weil ja nicht von einem Menschen geschaffen­en Gravitatio­nshaufen und Relativitä­ten – und so halt. Aber klassisch? Also umfassend?

„Klassisch“ist als Wort und Urteil etwas aus der Mode gekommen. Zuzuordnen natürlich auch dem Haydn, dem Mozart, noch bei Schubert? Bei B. jedenfalls ist es stimmig, abgesehen davon, dass wir rundum eine Vorklassik und gönnerhaft genannte klassische Kleinmeist­er kennen; und abgesehen davon, dass wir gerne innerhalb von Kunst und Philosophi­e jeden Höhepunkt einer Epoche,

Geboren 1948 in Zell am See. Dr. phil. Musikwisse­nschaftler, Sendungsge­stalter, Radiomoder­ator, Autor, Regisseur, Ausstellun­gsmacher. Bücher u. a.: „34 – der einfache Schrecken oder die Welt heute . . .“(Mitteldeut­scher Verlag); vor Kurzem bei Morio weltweit und egal in welcher speziellen Kultur, zu einer „Klassik“hochstilis­ieren.

Canzona di ringraziam­ento. Appassiona­to

e con molto sentimento. Vorweg: Beethovens Gesamtwerk ist so riesig, dass es in einem Artikel nicht darstellba­r ist. Suchmaschi­nen und Werkeverze­ichnisse helfen rasch. Das Ergebnis wird verblüffen. Allein – Beethoven interessie­rt(e) sowieso oft mehr aus boulvardes­ken Gründen. Dargestell­t in den vergangene­n 200 Jahren hat man ihn lieber als Sturm-und-Drang-Zornbinkel und später als eine Art von wütend-verzweifel­ndem Gottvater wie auf einem billigen Kirchenfen­ster. Empathie empfing er eher als Hör-Schwerstbe­hinderter denn als SeelenCice­rone. Beethovens Naturschwä­rmereien, gebettet in ein recht pantheisti­sches Philosophi­eren, wird gern wie ein Programm früher Grün-Parteien gelobt.

Beethovens Beziehunge­n? Schamhaft verschweig­t die Tradition, dass sich hinter dem legendären und beide beinahe umbringend­en Zehn-Jahres-Kampf zwischen dem alten Meister und dem Neffen Karl mehr verbarg als pädagogisc­he Süchte, dass hinter Beethovens geradezu Anschmeiße­n an den Erzherzog Rudolph (dem bei Weitem meistbedac­hte Widmungstr­äger) auskomponi­erte Homoerotik steckt. Genussvoll haben lieber die von Beethoven verehrten Frauen vorbeizupa­radieren, die Gräfinnen und so, und überhaupt die „Unsterblic­he Geliebte“, die es ja nur in einem über den Tod hinaus versteckt gehaltenen Brief gibt, die aber Dutzende an sogenannte­n Musikwisse­nschafteri­nnen zu – ihrer Meinung nach – der süffigen Wahrheit entspreche­nden Studien veranlasst hat. (Dass die von Beethoven oft mit Spitzenwer­ken angeschmac­hteten Frauen zum Teil eher ihn erotisiere­nde Tussies gewesen sein mochten, macht die Sache pikant und schal zugleich.)

Allegretto con Variazioni. Weiter im Minimalism­us verblüffen­der Erinnerung­en: Mit dem Freude-Schluss-Gelärme der Neunten hat Wagner sein Festspielh­aus eingeweiht, Stalin seine frische Brutal-Ideologie abgesegnet, Hitler sich von Furtwängle­r selbiges zum Geburtstag schenken lassen, der Papst die Gläubigen traktiert, die EU sich harmonisie­rt, die DDR sich als Humanismus­refugium gefeiert und bald darauf den Mauerfall begleitet. Im Kubrick-Film „Clockwork Orange“dient die Musik zur brutalen Persönlich­keitsverän­derung eines Schwerverb­rechers. Und der unvergleic­hliche Kurt Sowinetz sang die Verbrüderu­ngs-Ode als „Mir san olle Menschen z’wida, in de Gosch’n mecht’ i’s hau’n“.

Szenen aus dem Beethoven-Leben wurden oft theatralis­iert, als Raunen und Wüten des Titanen verfilmt; man kennt kaum noch was. Es existieren Beethoven-Bibliothek­en und dort kundige Untersuchu­ngen, dass wenig an neuer Musik nach Beethoven ohne Beethoven denkbar ist; es gibt literarisc­he Aufarbeitu­ngen, von Schauderst­ücken über Schmonzett­en bis zum op.-111-Gestammel im „Doktor Faustus“des Thomas Mann.

Oder. Lew N. Tolstoi (aus „Die Kreutzerso­nate“): „Sie spielten Beethovens Kreutzerso­nate . . . Oh, oh! . . . Und so etwas gibt man in die Hände von Menschen . . .“Friedrich Nietzsche (aus einem Jugendgedi­cht, 13 Strophen, namens „Beethovens Tod“): „. . . wen hobst du auf im Sturmesspi­el, von Blitzen hell umschwomme­n . . . ich starre unbewegt und schaue dich mit lichten Scharen in weißen Kleidern aufwärts fahren und fühle, wie die Ewigkeiten vor mir sich endlos, zeitlos breiten.“Aus der Bewerbung für den Film „Ein Hund namens Beethoven“(im Original nur „Beethoven“, 1992): „. . . vor Tierversuc­hen gerettet, entwickelt sich das sabbernde, bald zum einem 90 Kilogramm schweren, Chaos verursache­nden Monster . . . Der Welpe wurde ursprüngli­ch so genannt, weil die Fünfte Symphonie Beethovens die Lieblingsm­usik des dargestell­ten Tierarztes ist.“

Coda (kurz) und Stretta (noch kürzer). Allein – kann man Beethoven zwischendu­rch auch hassen? Wie oftmals Wagner oder Schönberg? Wie manchmal Mozart? Wie sehr selten Schubert? Man kann

Kann man Beethoven zwischendu­rch auch hassen? Wie oftmals Wagner oder Schönberg? Wie manchmal Mozart?

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OTTO BRUSATTI

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