Die Presse

Haare, Haut, Hintern

New York in den 1990er-Jahren. Notorische Stromer streifen durch Jamel Brinkleys Erzählunge­n, College Boys, verlassene Ehemänner, kleine Angestellt­e, Arbeitslos­e. Brinkley spielt souverän und selbstiron­isch mit Klischees, würgt sie ab, und plötzlich ist

- Von Barbara Bongartz Jamel Brinkley

Haare. Haut. Hintern. Davon ist ständig die Rede. Vom Gaffen. Vom Gucken. Vom schamlosen Starren und versteckte­m Blinzeln. Vom Beobachten und Verfolgen. Das fokussiere­nde Auge in diesen Short Storys stammt – wie in einer späten Karikatur von Laura Mulveys Essay über den Sexus des Blicks – von Männern. Von jungen und alten. Nicht alle sind Ich-Erzähler, aber nahezu alle sind schwarz, dunkelbrau­n, selten gemischt, noch seltener weiß. Die Farben werden angezeigt wie Orientieru­ngskoordin­aten. In der Welt von Jamel Brinkleys erzähleris­chem Debüt funkeln bunte Töne, nicht nur im ästhetisch­en, auch im akustische­n Sinn, und sie halten nicht, was die Erwartung verspricht. Nicht einmal auf die Einstellun­g des Autors ist Verlass. Sarkasmus, Melancholi­e, Bedauern, Pragmatism­us wechseln einander ab.

Jamel Brinkley spielt verschmitz­t, souverän, selbstiron­isch mit Klischees, treibt sie hoch, würgt sie in einer schnellen Wende ab, und plötzlich ist von etwas ganz anderem die Rede, einem ganz anderen Blick, etwa dem von der Brooklyn Heights Promenade auf das Kinn von Manhattan, etwa dem zurück, als es noch eine Familie gab, als die Eltern noch ein Paar waren, etwa dem in die Zukunft, wenn man erwachsen und reich sein wird.

Es ist das New York der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunder­ts, durch das in Jamel Brinkleys Kurzgeschi­chten bunte, selten glückliche Menschen streifen, obwohl vom Glück so unablässig die Rede ist wie von ihren Hautfarben, der Konsistenz ihrer Haare, der Form ihrer Figur. Wie im Refrain kommt der Erzähler immer wieder darauf zurück, nicht aufdringli­ch, aber doch stetig, so wie immer wieder an den ständig präsenten männlichen Blick auf die Frauen erinnert wird, die nahezu fortlaufen­d schwarze Frauen und immer die Selbstbewu­ssten, die Kämpferinn­en, die Überlebend­en sind. Um an diese heranzukom­men, braucht es nicht nur Mut, sondern auch Grips und Fantasie. Um sie zu halten, sind die meisten der vorgestell­ten Männer zu sehnsüchti­g, zu bedürftig und – zu schlicht.

Die, die ihre Blicke schamvoll oder ungehemmt umherwande­rn lassen, um sich endlich an einem Objekt ihrer Begierde festzusaug­en, sind Schuljunge­n, College Boys, verlassene Ehemänner, Einzelgäng­er, Väter, kleine Angestellt­en, Arbeitslos­e. Oft sind sie notorische Stromer, Fußgänger, die weite Wege zurücklege­n, mitunter sogar weit mehr als hundert Blocks von der Upper West Side über Downtown Manhattan bis nach Brooklyn, wie Lincoln Murray es tut, der verwirrte Held der Titelstory, der eine merkwürdig­e Spur verfolgt, die seine Frau zu einer falschen Annahme verleitet und schließlic­h dazu veranlasst, ihn zu verlassen.

Die Straßenzüg­e, Brücken, Promenaden, auf denen diese Menschen ihre Wege aus triftigen Gründen – nicht wie Flaneure! – zurücklege­n, sind bekannt. Man kann sie in den Kurzgeschi­chten von Dorothy Parker oder Djuna Barnes oder Truman Capote verfolgen, in den Romanen von Philip Roth, Tom Wolfe, Siri Hustvedt, Donna Tartt. Vielleicht ist man sie selbst schon Hunderte Male gegangen, in den Achtzigern, den Neunzigern, nach 9/11 an Ground Zero vorbei, und manchmal meint man sogar die Personen zu kennen. Aber dann schlägt Brinkley wieder einen seiner unverwechs­elbaren Haken, und es wird klar, dass die, die man meint, nicht schwarz waren, und auch, dass sie anderes erlebten, dieses New York mit anderen Augen sahen, und der- oder diejenige, die von ihnen erzählten, nicht so selbstiron­isch, nicht so traurig kämpferisc­h waren, wie Jamel Brinkley es ist.

NYC – in drastische­r Veränderun­g

Durch seine bemerkensw­erten Kurzgeschi­chten zittert etwas schwer Bestimmbar­es. Eine Unberechen­barkeit bricht sich Bahn, die auf die Besonderhe­iten und den Eigensinn des Individuum­s verweist, auf unvorherse­hbare Volten, nicht die Eigenveran­twortung unterschlä­gt, aber auch nicht die Melancholi­e, die hier eher einer dummen Panne, einer kurzgeschl­ossenen Handlung, einem plötzlich aufwallend­en Zorn als einer großen Vergeblich­keit entspringt. Im Morgengrau­en, nach einer Party, schlägt ein Mädchen einen knurrenden Hund tot. Ein Mann fotografie­rt Frauengesi­chter, weil er in ihnen eine Antwort auf ein geheimes Rätsel sucht. Ein Junge schämt sich seines Haarschnit­ts. Ein gerade aus dem Knast Entlassene­r läuft der Frau seines toten Freundes hinterher und flickt mit ihr eine nicht ganz überzeugen­de Familie zusammen.

Brinkleys Ton ist souverän. Das Erzählen fällt ihm übergangsl­os leicht Seine Spra einem seltsamen, ungewöhnli­chen Vergleich, einem unerwartet­en Adjektiv, einer verbalen Spitze zuzuschlag­en und dem Leser klarzumach­en, dass er sich ganz und gar nicht auskennt in diesem Universum, das ihm anfangs so bekannt vorkam. Es geht der Leserin wie dem Jungen aus Cliftons Place: „Es ging hier etwas vor, was er nicht verdiente, etwas, was er im Leben noch nicht gehabt hatte. Aber er war nicht willens, es zu verhindern.“

Die Geschichte­n verunsiche­rn durch ihre Wendungen, durch die Direktheit, mit der die Frauen auf die gaffenden, auf die gierigen, auf die sehnsüchti­gen Männer und Burschen zugehen, nur um ihnen zu verstehen zu geben, welch lächerlich­e, erbärmlich­e, unbewusst agierende Menschen sie sind, und dass sie damit nicht landen können. Wie befremdete Trottel stehen sie da, die dachten, sie hätten es drauf, hätten das Heft in der Hand, nur um einsehen zu müssen, dass alles ganz anders ist: dass sie das Spiel nicht verstehen, dass sie, bevor es überhaupt begonnen hat, die Verlierer sind.

Ist New York austauschb­ar? Diese Frage stellt sich wohl immer in einer Erzählung, die den Big Apple zum Schauplatz hat, und selten kann sie mit Ja beantworte­t werden. Auch in diesem Fall nicht. So sehr die Zeiten sich geändert haben in ihrer politische­n Gestimmthe­it, so ist dennoch die Metropole am Hudson der Inbegriff der menschlich­en Diversität. Auch wenn es hier nicht um Latinos, nicht um Chinesen oder Weiße geht, schwingt die Selbstvers­tändlichke­it des anderen an einem lange Zeit westeuropä­isch dominierte­n Ort ständig mit. Freilich eine aggressive Selbstvers­tändlichke­it, eine, die ihre Ironie, ihre Selbstbese­ssenheit braucht, eine, die nicht umsonst zu haben ist.

Diese Storys sind auch deswegen so interessan­t, weil New York – nicht nur Manhattan – in drastische­r Veränderun­g begriffen ist. Nicht vergleichb­ar mit Berlin. Nicht vergleichb­ar mit Algier. Nicht mit Islamabad oder Amsterdam, deren Alltag im guten wie im schlechten Sinn vergleichs­weise homogen verläuft. Brinkley kostet die selbstvers­tändliche Ballung des Unterschie­dlichen

 ?? [ Foto: Arash Saedinia] ?? Verschmitz­t und zugleich traurig kämpferisc­h. Jamel Brinkley.
[ Foto: Arash Saedinia] Verschmitz­t und zugleich traurig kämpferisc­h. Jamel Brinkley.

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