Haare, Haut, Hintern
New York in den 1990er-Jahren. Notorische Stromer streifen durch Jamel Brinkleys Erzählungen, College Boys, verlassene Ehemänner, kleine Angestellte, Arbeitslose. Brinkley spielt souverän und selbstironisch mit Klischees, würgt sie ab, und plötzlich ist
Haare. Haut. Hintern. Davon ist ständig die Rede. Vom Gaffen. Vom Gucken. Vom schamlosen Starren und verstecktem Blinzeln. Vom Beobachten und Verfolgen. Das fokussierende Auge in diesen Short Storys stammt – wie in einer späten Karikatur von Laura Mulveys Essay über den Sexus des Blicks – von Männern. Von jungen und alten. Nicht alle sind Ich-Erzähler, aber nahezu alle sind schwarz, dunkelbraun, selten gemischt, noch seltener weiß. Die Farben werden angezeigt wie Orientierungskoordinaten. In der Welt von Jamel Brinkleys erzählerischem Debüt funkeln bunte Töne, nicht nur im ästhetischen, auch im akustischen Sinn, und sie halten nicht, was die Erwartung verspricht. Nicht einmal auf die Einstellung des Autors ist Verlass. Sarkasmus, Melancholie, Bedauern, Pragmatismus wechseln einander ab.
Jamel Brinkley spielt verschmitzt, souverän, selbstironisch mit Klischees, treibt sie hoch, würgt sie in einer schnellen Wende ab, und plötzlich ist von etwas ganz anderem die Rede, einem ganz anderen Blick, etwa dem von der Brooklyn Heights Promenade auf das Kinn von Manhattan, etwa dem zurück, als es noch eine Familie gab, als die Eltern noch ein Paar waren, etwa dem in die Zukunft, wenn man erwachsen und reich sein wird.
Es ist das New York der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts, durch das in Jamel Brinkleys Kurzgeschichten bunte, selten glückliche Menschen streifen, obwohl vom Glück so unablässig die Rede ist wie von ihren Hautfarben, der Konsistenz ihrer Haare, der Form ihrer Figur. Wie im Refrain kommt der Erzähler immer wieder darauf zurück, nicht aufdringlich, aber doch stetig, so wie immer wieder an den ständig präsenten männlichen Blick auf die Frauen erinnert wird, die nahezu fortlaufend schwarze Frauen und immer die Selbstbewussten, die Kämpferinnen, die Überlebenden sind. Um an diese heranzukommen, braucht es nicht nur Mut, sondern auch Grips und Fantasie. Um sie zu halten, sind die meisten der vorgestellten Männer zu sehnsüchtig, zu bedürftig und – zu schlicht.
Die, die ihre Blicke schamvoll oder ungehemmt umherwandern lassen, um sich endlich an einem Objekt ihrer Begierde festzusaugen, sind Schuljungen, College Boys, verlassene Ehemänner, Einzelgänger, Väter, kleine Angestellten, Arbeitslose. Oft sind sie notorische Stromer, Fußgänger, die weite Wege zurücklegen, mitunter sogar weit mehr als hundert Blocks von der Upper West Side über Downtown Manhattan bis nach Brooklyn, wie Lincoln Murray es tut, der verwirrte Held der Titelstory, der eine merkwürdige Spur verfolgt, die seine Frau zu einer falschen Annahme verleitet und schließlich dazu veranlasst, ihn zu verlassen.
Die Straßenzüge, Brücken, Promenaden, auf denen diese Menschen ihre Wege aus triftigen Gründen – nicht wie Flaneure! – zurücklegen, sind bekannt. Man kann sie in den Kurzgeschichten von Dorothy Parker oder Djuna Barnes oder Truman Capote verfolgen, in den Romanen von Philip Roth, Tom Wolfe, Siri Hustvedt, Donna Tartt. Vielleicht ist man sie selbst schon Hunderte Male gegangen, in den Achtzigern, den Neunzigern, nach 9/11 an Ground Zero vorbei, und manchmal meint man sogar die Personen zu kennen. Aber dann schlägt Brinkley wieder einen seiner unverwechselbaren Haken, und es wird klar, dass die, die man meint, nicht schwarz waren, und auch, dass sie anderes erlebten, dieses New York mit anderen Augen sahen, und der- oder diejenige, die von ihnen erzählten, nicht so selbstironisch, nicht so traurig kämpferisch waren, wie Jamel Brinkley es ist.
NYC – in drastischer Veränderung
Durch seine bemerkenswerten Kurzgeschichten zittert etwas schwer Bestimmbares. Eine Unberechenbarkeit bricht sich Bahn, die auf die Besonderheiten und den Eigensinn des Individuums verweist, auf unvorhersehbare Volten, nicht die Eigenverantwortung unterschlägt, aber auch nicht die Melancholie, die hier eher einer dummen Panne, einer kurzgeschlossenen Handlung, einem plötzlich aufwallenden Zorn als einer großen Vergeblichkeit entspringt. Im Morgengrauen, nach einer Party, schlägt ein Mädchen einen knurrenden Hund tot. Ein Mann fotografiert Frauengesichter, weil er in ihnen eine Antwort auf ein geheimes Rätsel sucht. Ein Junge schämt sich seines Haarschnitts. Ein gerade aus dem Knast Entlassener läuft der Frau seines toten Freundes hinterher und flickt mit ihr eine nicht ganz überzeugende Familie zusammen.
Brinkleys Ton ist souverän. Das Erzählen fällt ihm übergangslos leicht Seine Spra einem seltsamen, ungewöhnlichen Vergleich, einem unerwarteten Adjektiv, einer verbalen Spitze zuzuschlagen und dem Leser klarzumachen, dass er sich ganz und gar nicht auskennt in diesem Universum, das ihm anfangs so bekannt vorkam. Es geht der Leserin wie dem Jungen aus Cliftons Place: „Es ging hier etwas vor, was er nicht verdiente, etwas, was er im Leben noch nicht gehabt hatte. Aber er war nicht willens, es zu verhindern.“
Die Geschichten verunsichern durch ihre Wendungen, durch die Direktheit, mit der die Frauen auf die gaffenden, auf die gierigen, auf die sehnsüchtigen Männer und Burschen zugehen, nur um ihnen zu verstehen zu geben, welch lächerliche, erbärmliche, unbewusst agierende Menschen sie sind, und dass sie damit nicht landen können. Wie befremdete Trottel stehen sie da, die dachten, sie hätten es drauf, hätten das Heft in der Hand, nur um einsehen zu müssen, dass alles ganz anders ist: dass sie das Spiel nicht verstehen, dass sie, bevor es überhaupt begonnen hat, die Verlierer sind.
Ist New York austauschbar? Diese Frage stellt sich wohl immer in einer Erzählung, die den Big Apple zum Schauplatz hat, und selten kann sie mit Ja beantwortet werden. Auch in diesem Fall nicht. So sehr die Zeiten sich geändert haben in ihrer politischen Gestimmtheit, so ist dennoch die Metropole am Hudson der Inbegriff der menschlichen Diversität. Auch wenn es hier nicht um Latinos, nicht um Chinesen oder Weiße geht, schwingt die Selbstverständlichkeit des anderen an einem lange Zeit westeuropäisch dominierten Ort ständig mit. Freilich eine aggressive Selbstverständlichkeit, eine, die ihre Ironie, ihre Selbstbesessenheit braucht, eine, die nicht umsonst zu haben ist.
Diese Storys sind auch deswegen so interessant, weil New York – nicht nur Manhattan – in drastischer Veränderung begriffen ist. Nicht vergleichbar mit Berlin. Nicht vergleichbar mit Algier. Nicht mit Islamabad oder Amsterdam, deren Alltag im guten wie im schlechten Sinn vergleichsweise homogen verläuft. Brinkley kostet die selbstverständliche Ballung des Unterschiedlichen