Stabilität darf wieder in Mode kommen
Warum wir jetzt wieder mehr Planbarkeit brauchen und eine gewählte Regierung endlich wieder ein paar Pflichten übernehmen muss.
Sagen wir einfach, es war eine Phase des Experimentierens: Türkis-Blau, Ibiza-Video-Release, Regierungsaus, Abwahl des Bundeskanzlers, Installierung eines Experten-Kabinetts, Neuwahlen, alte Regierungsparteien, denen nur die Opposition bleibt, zähe Regierungsverhandlungen zwischen Sebastian Kurz und Werner Kogler und mit Silvester eine neue Regierung aus zwei Parteien, die sich kaum wer in einer Koalition vorstellen konnte. Nun also Türkis-Grün.
Ohne detaillierte Kenntnis des Regierungsprogramms ist eine präzise Prognose für 2020 unmöglich. Unerträgliche Einschränkungen und massive Belastungen für den Wirtschaftsstandort sind nicht absehbar. Mehr Anstrengungen und eine Ökologisierung unseres Wirtschafts- und Finanzsystems sind angesichts des massiven Klimawandels unausweichlich. Was aber als echte Notwendigkeit nach einem Jahr innenpolitischem Chaos und Jahren der Wirtschafts-, Finanzen- und EU-Krisen bleibt, wäre die gute alte Grundzuschreibung zu Österreich: Stabilität.
Egal ob Wähler, Industrie und Unternehmer, wir alle haben uns Planbarkeit und wieder ein wenig Kontinuität verdient. Und nein, das bedeutet nicht, dass der Idealzustand ein Beamten-Kabinett wie in den vergangenen Monaten ist. Brigitte Bierlein und ihr Team haben einen guten, soliden Job erledigt, die notwendige demokratiepolitische Bestätigung, eine echte Exekutivregierung zu bilden und weitreichende Entscheidungen zu fällen, fehlte.
Dass Österreich dringend eine handlungsfähige Regierung braucht, gebietet nicht nur der Klimawandel, sondern ein wirtschaftspolitisches Umfeld, das weiter Resilienz und Handlungsfähigkeit voraussetzt: Der Konjunkturmotor scheint auf niedrigeren Touren zu laufen, der Brexit hat wohl ein (Ablauf )Datum, aber klar sind die Konsequenzen keineswegs, und der kalt-warme Handelskrieg geht leider weiter. Strukturelle Aufgaben im eigenen Land wie im Pflegebereich oder bei der Pensionsunterfinanzierung bleiben drängende Probleme, die wohl auch von Türkis-Grün mehr vorsichtig als mutig angegangen werden.
Erinnert sich noch irgendjemand daran, dass noch vor wenigen Jahren die Bildung und unsere Defizite dabei das zentrale Thema waren? Auch wenn es nicht ständig in den Schlagzeilen ist, es ist nach wie vor eine der wichtigsten politischen Herausforderungen. Oder das Thema Migration: Neue Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen werden auf Europa zukommen. Davon teils unabhängig braucht der Kontinent qualifizierte Arbeitskräfte von außen, denn die Überalterung kommt bestimmt. Schließlich noch ein brennendes Problem, angesichts dessen Kanzler und Vizekanzler wohl nur Passagiere sind: Die Niedrigst- und Negativzinsen mögen zwar dem Staatshaushalt helfen, die Sparer werden jedoch verhöhnt.
Und dann wäre da noch die Hoffnung, dass Türkis-Grün auch eine Abschwächung der gesellschaftspolitischen Polarisierung bringt. Seit den Präsidentschaftswahlen scheint es für viele nur noch Schwarz und Weiß zu geben. (Wobei Alexander Van der Bellen unbestreitbar gute Arbeit leistet.) Eine Koalition aus zwei Parteien und Politikern, die sich bis dato als Gegner, wenn nicht sogar als Feinde verstanden haben, könnte Österreich atmosphärisch positiv verändern und den gegenseitigen Respekt fördern. Das kann natürlich alles naive Hoffnung sein. Fest steht: Es beginnt 2020 ein neues Experiment für und in Österreich.