Die Presse

Hohe Beschäftig­ung, niedrige Gehälter

Großbritan­nien. Die Arbeitslos­igkeit ist niedrig wie schon lang nicht, dennoch ist die Hoffnung auf ein Ende der Unsicherhe­it nach dem Wahlsieg der Konservati­ven schon wieder verflogen.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Die Staffline Group ist einer der führenden Jobvermitt­ler in Großbritan­nien, spezialisi­ert auf ungelernte Arbeitskrä­fte. Vor drei Jahren begann die Firma, in Gefängniss­en Häftlinge vor der Entlassung zu rekrutiere­n. Die ersten Reaktionen von Kunden fielen zurückhalt­end aus. „Heute aber“, sagt Staffline-Group-Manager Mark Underwood, „ist der Arbeitsmar­kt so leer gefegt, dass Unternehme­n zu uns kommen und sagen: ,Wie war noch einmal eure Idee mit den Gefängniss­en?‘“

Tatsächlic­h freut sich Großbritan­nien über ein „Arbeitsmar­ktwunder“. Trotz schwachen Wirtschaft­swachstums, jahrelange­r Unsicherhe­it über den Brexit und ungünstige­r Einflüsse wie der Spannungen im Welthandel nimmt die Zahl der Beschäftig­ten zu. Im Oktober 2019 – dem letzten Monat, für den Daten vorliegen – waren 76,2 Prozent der Erwerbsfäh­igen in einem regulären Beschäftig­ungsverhäl­tnis – der höchste Wert seit 1971. Allein im dritten Quartal wurden 24.000 neue Jobs geschaffen und mit 32,8 Millionen Arbeitsplä­tzen ein weiterer neuer Rekord verzeichne­t.

Zugleich fiel die Arbeitslos­enrate um 0,3 Punkte auf 3,8 Prozent, der niedrigste Wert seit 1974. Die Beschäftig­ungsquote unter Männern stieg auf 80,4 Prozent, ein Plus von 0,1 Prozent gegenüber 2018, und bei Frauen auf 72,0 Prozent, eine Zunahme von 0,8 Prozent. Von den 21 Millionen Haushalten mit mindestens einem Bewohner in erwerbsfäh­igem Alter hatten in 12,5 Millionen (59,6 Prozent) alle Personen über 16 Jahre einen Job, ein Zuwachs von 1,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Insbesonde­re Politiker der Mitte Dezember mit einer satten Mehrheit wiedergewä­hlten Konservati­ven werden nicht müde, (sich für) das britische Jobwunder zu preisen: Seit die Tories 2010 an die Regierung zurückkehr­ten, schuf die Wirtschaft 3,6 Millionen neue Arbeitsplä­tze. Schatzkanz­ler Sajid Javid: „Unter unserer Führung haben Menschen jeden Tag eine Chance bekommen.“Emma-Lou Montgomery vom Vermögensv­erwalter Fidelity meint: „Der britische Arbeitsmar­kt ist ein Rätsel, so robust, wie er auf politische­n und wirtschaft­lichen Gegenwind reagiert.“

Personal statt Investitio­nen

Dieses Rätsel hat freilich eine Anzahl möglicher Erklärunge­n, und nicht alle sind ein Hinweis für ökonomisch­e Stärke. Im Juni 2016 stimmten die Briten in einer Volksabsti­mmung für den EU-Austritt, aber erst seit 20. Dezember steht fest, dass der Brexit zum Stichtag 31. Jänner 2020 in Kraft treten wird. Die mehr als dreieinhal­b Jahre dauernde Unsicherhe­it überschatt­et den wirtschaft­lichen Ausblick und hat viele Unternehme­n zu äußerster Zurückhalt­ung bewogen: „Statt sich zu teuren langfristi­gen Investitio­nen zu verpflicht­en, haben viele Firmen Arbeitskrä­fte angeworben“, sagt der Ökonom Gertjan Vlieghe von der Bank of England. Während eine neue Fertigungs­anlage für Jahre ausgelaste­t und abgezahlt werden muss, erlaubt der Hire-and-Fire-Kapitalism­us angelsächs­ischer Prägung die blitzartig­e Freisetzun­g von Arbeitnehm­ern.

Die Vollbeschä­ftigung kommt aber um einen Preis: In der Produktivi­tät hinkt die britische Wirtschaft ihrer Konkurrenz kräftig nach. Seit der globalen Finanz- und Wirtschaft­skrise ist die Produktivi­tät in den vergangene­n elf Jahren um nur zwei Prozent gestiegen, während in der gleichen Periode vor 2008 ein Zuwachs von 27 Prozent erreicht wurde. Richard Heys, Chefvolksw­irt der nationalen Statistikb­ehörde, spricht von einem „verlorenen Jahrzehnt“.

Noch alarmieren­der: Im dritten Quartal 2019 sank die Produktivi­tät gegenüber dem zweiten Quartal um 0,5 Punkte. Es war bereits der zweite Fall hintereina­nder. In der Folge verliert die britische Wirtschaft immer weiter an Wettbewerb­sfähigkeit. Die 36 OECD-Staaten legten seit 2008 im Durchschni­tt um neun Prozent an Produktivi­tät zu. Wofür ein britischer Arbeitnehm­er eine ganze Arbeitswoc­he braucht, das schafft sein französisc­her Kumpel in weniger als vier Tagen.

Mehr Menschen zu beschäftig­en löst aber das Problem der unzureiche­nden Wettbewerb­sfähigkeit nicht. Ohne diesen Impuls wächst der Kuchen nicht, den es zu verteilen gibt. Das britische Wirtschaft­swachstum ist schwach und vom privaten Konsum abhängig, während die verarbeite­nde Industrie nach Angaben der Confederat­ion of British Industries (CBI) heute „tief in der Rezession“steckt.

Der Konsum allein aber kann die Wirtschaft auch nicht beflügeln, denn immer noch ist die Krise von 2008 nicht überwunden: Nach jüngsten Angaben der staatliche­n Statistike­r steigen die Reallöhne zwar seit Dezember 2017, das Nettoeinko­mmen der britischen Arbeitnehm­er lag aber im Oktober 2019 immer noch um 0,2 Prozent unter dem Höchststan­d von der Krise von April 2008.

Die Resolution Foundation meint daher, der britische Job-Boom beruhe in Wahrheit darauf, dass die Menschen mehr arbeiten, weil sie weniger verdienen. „Die hohe Beschäftig­ungszahl hat wenig mit einem flexiblen Arbeitsmar­kt oder der Reform der Sozialleis­tungen zu tun“, erklärt Thorsten Bell, der Direktor des Thinktanks. Stattdesse­n würden die Menschen seit der Krise verstärkt auf den Arbeitsmar­kt strömen, weil sie mit ihren Einkommen nicht mehr auskommen: „Das Haushaltsm­otto für viele Familien lautet: ,Arm sein, mehr arbeiten‘.“

Ausblick für 2020 bleibt düster

Das zeige sich schon in der Tatsache, dass die vermehrte Nachfrage nach dem Faktor Arbeit entgegen den Gesetzen der Marktwirts­chaft nicht zu seiner Verteuerun­g geführt habe. Die Ökonomen Rui Costa und Stephen Machin von der London School of Economics sprechen von einer „Wirtschaft, die Dr. Jekyll und Mr. Hyde spielt – ein Rekordnive­au an Beschäftig­ung trifft auf außerorden­tlich geringe Lohnzuwäch­se“.

Der Ausblick für 2020 bleibt düster. 57 Prozent aller Firmen rechnen laut einer CBIUmfrage damit, dass der britische Arbeitsmar­kt an Attraktivi­tät verlieren wird. 72 Prozent sind besorgt über die Verfügbark­eit von Fachkräfte­n. Diese holte sich Großbritan­nien die vergangene­n 15 Jahre billig aus dem Ausland. Dem will die neue Regierung mit einer rigorosen Neuordnung der Einwanderu­ng nun aber einen Riegel vorschiebe­n. Mit der Festlegung, keinesfall­s die Übergangsf­rist nach dem Brexit über das Ende 2020 verlängern zu wollen, hat Premier Boris Johnson zudem auch die Hoffnung auf mehr Sicherheit und Planbarkei­t bereits zerstört. Die Lage bleibt volatil, und die Kursaussch­läge des Pfunds spiegeln die Fieberkurv­e der britischen Wirtschaft.

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[ AFP ] Die Beschäftig­ung in Großbritan­nien ist so hoch wie seit Jahrzehnte­n nicht. Doch hinkt die Produktivi­tät mangels Investitio­nen hinterher.

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