Hohe Beschäftigung, niedrige Gehälter
Großbritannien. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig wie schon lang nicht, dennoch ist die Hoffnung auf ein Ende der Unsicherheit nach dem Wahlsieg der Konservativen schon wieder verflogen.
Die Staffline Group ist einer der führenden Jobvermittler in Großbritannien, spezialisiert auf ungelernte Arbeitskräfte. Vor drei Jahren begann die Firma, in Gefängnissen Häftlinge vor der Entlassung zu rekrutieren. Die ersten Reaktionen von Kunden fielen zurückhaltend aus. „Heute aber“, sagt Staffline-Group-Manager Mark Underwood, „ist der Arbeitsmarkt so leer gefegt, dass Unternehmen zu uns kommen und sagen: ,Wie war noch einmal eure Idee mit den Gefängnissen?‘“
Tatsächlich freut sich Großbritannien über ein „Arbeitsmarktwunder“. Trotz schwachen Wirtschaftswachstums, jahrelanger Unsicherheit über den Brexit und ungünstiger Einflüsse wie der Spannungen im Welthandel nimmt die Zahl der Beschäftigten zu. Im Oktober 2019 – dem letzten Monat, für den Daten vorliegen – waren 76,2 Prozent der Erwerbsfähigen in einem regulären Beschäftigungsverhältnis – der höchste Wert seit 1971. Allein im dritten Quartal wurden 24.000 neue Jobs geschaffen und mit 32,8 Millionen Arbeitsplätzen ein weiterer neuer Rekord verzeichnet.
Zugleich fiel die Arbeitslosenrate um 0,3 Punkte auf 3,8 Prozent, der niedrigste Wert seit 1974. Die Beschäftigungsquote unter Männern stieg auf 80,4 Prozent, ein Plus von 0,1 Prozent gegenüber 2018, und bei Frauen auf 72,0 Prozent, eine Zunahme von 0,8 Prozent. Von den 21 Millionen Haushalten mit mindestens einem Bewohner in erwerbsfähigem Alter hatten in 12,5 Millionen (59,6 Prozent) alle Personen über 16 Jahre einen Job, ein Zuwachs von 1,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Insbesondere Politiker der Mitte Dezember mit einer satten Mehrheit wiedergewählten Konservativen werden nicht müde, (sich für) das britische Jobwunder zu preisen: Seit die Tories 2010 an die Regierung zurückkehrten, schuf die Wirtschaft 3,6 Millionen neue Arbeitsplätze. Schatzkanzler Sajid Javid: „Unter unserer Führung haben Menschen jeden Tag eine Chance bekommen.“Emma-Lou Montgomery vom Vermögensverwalter Fidelity meint: „Der britische Arbeitsmarkt ist ein Rätsel, so robust, wie er auf politischen und wirtschaftlichen Gegenwind reagiert.“
Personal statt Investitionen
Dieses Rätsel hat freilich eine Anzahl möglicher Erklärungen, und nicht alle sind ein Hinweis für ökonomische Stärke. Im Juni 2016 stimmten die Briten in einer Volksabstimmung für den EU-Austritt, aber erst seit 20. Dezember steht fest, dass der Brexit zum Stichtag 31. Jänner 2020 in Kraft treten wird. Die mehr als dreieinhalb Jahre dauernde Unsicherheit überschattet den wirtschaftlichen Ausblick und hat viele Unternehmen zu äußerster Zurückhaltung bewogen: „Statt sich zu teuren langfristigen Investitionen zu verpflichten, haben viele Firmen Arbeitskräfte angeworben“, sagt der Ökonom Gertjan Vlieghe von der Bank of England. Während eine neue Fertigungsanlage für Jahre ausgelastet und abgezahlt werden muss, erlaubt der Hire-and-Fire-Kapitalismus angelsächsischer Prägung die blitzartige Freisetzung von Arbeitnehmern.
Die Vollbeschäftigung kommt aber um einen Preis: In der Produktivität hinkt die britische Wirtschaft ihrer Konkurrenz kräftig nach. Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Produktivität in den vergangenen elf Jahren um nur zwei Prozent gestiegen, während in der gleichen Periode vor 2008 ein Zuwachs von 27 Prozent erreicht wurde. Richard Heys, Chefvolkswirt der nationalen Statistikbehörde, spricht von einem „verlorenen Jahrzehnt“.
Noch alarmierender: Im dritten Quartal 2019 sank die Produktivität gegenüber dem zweiten Quartal um 0,5 Punkte. Es war bereits der zweite Fall hintereinander. In der Folge verliert die britische Wirtschaft immer weiter an Wettbewerbsfähigkeit. Die 36 OECD-Staaten legten seit 2008 im Durchschnitt um neun Prozent an Produktivität zu. Wofür ein britischer Arbeitnehmer eine ganze Arbeitswoche braucht, das schafft sein französischer Kumpel in weniger als vier Tagen.
Mehr Menschen zu beschäftigen löst aber das Problem der unzureichenden Wettbewerbsfähigkeit nicht. Ohne diesen Impuls wächst der Kuchen nicht, den es zu verteilen gibt. Das britische Wirtschaftswachstum ist schwach und vom privaten Konsum abhängig, während die verarbeitende Industrie nach Angaben der Confederation of British Industries (CBI) heute „tief in der Rezession“steckt.
Der Konsum allein aber kann die Wirtschaft auch nicht beflügeln, denn immer noch ist die Krise von 2008 nicht überwunden: Nach jüngsten Angaben der staatlichen Statistiker steigen die Reallöhne zwar seit Dezember 2017, das Nettoeinkommen der britischen Arbeitnehmer lag aber im Oktober 2019 immer noch um 0,2 Prozent unter dem Höchststand von der Krise von April 2008.
Die Resolution Foundation meint daher, der britische Job-Boom beruhe in Wahrheit darauf, dass die Menschen mehr arbeiten, weil sie weniger verdienen. „Die hohe Beschäftigungszahl hat wenig mit einem flexiblen Arbeitsmarkt oder der Reform der Sozialleistungen zu tun“, erklärt Thorsten Bell, der Direktor des Thinktanks. Stattdessen würden die Menschen seit der Krise verstärkt auf den Arbeitsmarkt strömen, weil sie mit ihren Einkommen nicht mehr auskommen: „Das Haushaltsmotto für viele Familien lautet: ,Arm sein, mehr arbeiten‘.“
Ausblick für 2020 bleibt düster
Das zeige sich schon in der Tatsache, dass die vermehrte Nachfrage nach dem Faktor Arbeit entgegen den Gesetzen der Marktwirtschaft nicht zu seiner Verteuerung geführt habe. Die Ökonomen Rui Costa und Stephen Machin von der London School of Economics sprechen von einer „Wirtschaft, die Dr. Jekyll und Mr. Hyde spielt – ein Rekordniveau an Beschäftigung trifft auf außerordentlich geringe Lohnzuwächse“.
Der Ausblick für 2020 bleibt düster. 57 Prozent aller Firmen rechnen laut einer CBIUmfrage damit, dass der britische Arbeitsmarkt an Attraktivität verlieren wird. 72 Prozent sind besorgt über die Verfügbarkeit von Fachkräften. Diese holte sich Großbritannien die vergangenen 15 Jahre billig aus dem Ausland. Dem will die neue Regierung mit einer rigorosen Neuordnung der Einwanderung nun aber einen Riegel vorschieben. Mit der Festlegung, keinesfalls die Übergangsfrist nach dem Brexit über das Ende 2020 verlängern zu wollen, hat Premier Boris Johnson zudem auch die Hoffnung auf mehr Sicherheit und Planbarkeit bereits zerstört. Die Lage bleibt volatil, und die Kursausschläge des Pfunds spiegeln die Fieberkurve der britischen Wirtschaft.