„Musiker ermutigen“
Debüt. Zum ersten Mal dirigiert der aus Riga gebürtige Andris Nelsons das Neujahrskonzert. Mit der „Presse“sprach er über seinen Lehrer Mariss Jansons, Hände und Augen beim Dirigieren und historische Bezüge im Programm.
Dirigent Andris Nelsons im Gespräch vor seiner Premiere im Neujahrskonzert.
Die Presse: Vor wenigen Wochen ist Mariss Jansons gestorben. Wie wichtig war er für Ihre Dirigentenkarriere?
Andris Nelsons: Sein Tod erfüllt so viele von uns mit Trauer. Er zählte zu jenen, die am meisten Einfluss darauf hatten, dass ich mich entschloss, Dirigent zu werden. Schon mit fünf hatte ich davon geträumt. Aber erst einmal lernte ich Trompete, spielte in Riga im Opernorchester, dirigierte später die eine oder andere Vorstellung. Mariss ermutigte mich, mich ganz auf das Dirigieren zu konzentrieren. Ich habe so viel von ihm gelernt. Als ich später vor der Wahl stand, Chefdirigent der Oper oder des Symphonieorchesters von Riga zu werden, hat er mir geraten, zuerst die Position in der Oper zu übernehmen, später ein Symphonieorchester, denn der umgekehrte Weg funktioniert selten.
Wie haben Sie Jansons kennengelernt?
Bei einem Gastspiel von Oslo Philharmonic, dessen Chef er damals war, in Riga. Ein Trompeter fiel durch Krankheit aus, und ich sprang ein. Ich erzählte ihm, dass ich Dirigieren studiere, zeigte ihm ein paar Videos, die gefielen ihm so, dass er mich sieben Jahre unterrichtete. Das war eine sehr intensive Zeit. Sie endete erst, als ich Chefdirigent des City of Birmingham Orchestra wurde.
Worauf kommt es beim Dirigieren an?
Nicht jeder, der Musik versteht, kann Dirigent werden. Die Technik kann man lernen, wenn man ein Gefühl für Koordination hat. Nicht lernen kann man Charisma, die Psychologie, wann und was man sagen soll. Jansons hatte eine exzellente Schlagtechnik, er konnte den Charakter der Musik erklären, eine Atmosphäre schaffen, das ist das Wichtigste in der Musik.
Sind die Augen beim Dirigenten wichtiger, wie manche meinen, oder die Hände?
Das hängt von der Person ab. Der legendäre Arthur Nikisch hatte einen finsteren Blick, manche können einen mit einem Blick töten . . . Ein Dirigent muss Musiker ermutigen. Mit den Händen kann man viel ausdrücken. Ich habe viel bei US-Orchestern gelernt. Dort ist die Probenzeit kurz, da bleibt wenig Zeit zum Erklären, umso mehr kommt es auf den Ausdruck der Hände an.
Wann sind Sie erstmals mit Musik der Strauß-Dynastie in Kontakt gekommen?
In Riga. Dort habe ich zahlreiche Galakonzerte ohne Sänger mit Walzer- und Operettenmusik dirigiert. Mein erstes Strauß-Stück war die Polka schnell „Unter Donner und Blitz“. Ich war damals noch Trompeter im Opernorchester, bin zum Dirigentenpult gegangen, und wir haben mit diesem Stück dem Chefdirigenten zu seinem 40. Geburtstag gratuliert. Ohne Probe übrigens!
Worin liegen denn die besonderen Herausforderungen bei Strauß?
Man muss spüren, was eine Phrase im Moment braucht, es geht um die Balance von
Exaktheit und Natürlichkeit, ohne jeglichen Anflug von Parodie. Das ist nur möglich, wenn Dirigent und Orchester einander vertrauen, dann entsteht auch jedes Rubato oder Accelerando ganz selbstverständlich.
Wann haben Sie das erste Neujahrskonzert gehört?
In den 1990er-Jahren, davor gab es in der Sowjetunion keine Gelegenheit. Dann haben wir alle Videos, die wir auftreiben konnten, kopiert. Genauer erinnere ich mich an das Konzert 2001 mit Seiji Ozawa. Jedenfalls habe ich alle Neujahrskonzerte gesammelt. Bei der Vorbereitung für dieses Konzert habe ich sie mir alle angesehen und angehört.
Haben Sie unter den Dirigenten einen Favoriten?
Es ist aufschlussreich, die vielen Unterschiede zu sehen, und wie das Orchester auf diese unterschiedlichen Intentionen reagiert. Manche Dirigenten lachen, manche sind ernst. Aber alle haben mit ihrer Persönlichkeit dieses Konzert geprägt. Carlos Kleiber war sicher außerordentlich. Nicht, dass dies die einzige Art ist, Strauß zu dirigieren, aber diese Freude, die er ausstrahlte, dieser natürliche Fluss der Musik . . .
Haben Sie das Programm allein zusammengestellt?
Nein, mit dem Vorstand der Wiener Philharmoniker, Daniel Froschauer. Zuerst haben wir unsere Vorstellungen per E-Mail ausgetauscht, dann haben wir uns in Wien zusammengesetzt – und uns in kaum mehr als einer Stunde auf alle Details geeinigt. Mir war eine Mischung aus populäreren und weniger bekannten Stücken wichtig. Insgesamt stehen neun neue Werke auf dem Programm. Es gibt auch historische Bezüge: Mit „Seid umschlungen, Millionen“erinnern wir an das 150-jährige Bestehen des Musikvereinsgebäudes, mit „Die Liebesgrüße“an das 100-Jahr-Jubiläum der Salzburger Festspielen, mit dem „Postillon Galop“des Dänen Hans Christian Lumbye daran, dass auch der Erbauer des Musikvereins, Theophil von Hansen, ein Däne war. Das Beethoven-Jahr feiern wir mit dessen zwölf Contretänzen. Extra für dieses Konzert wurde die Polka mazur „Eisblume“von Eduard Strauß instrumentiert, ein sehr feines, melancholisches Stück. Lang war ich mir unsicher, womit ich beginnen sollte: mit dem „LiechtensteinMarsch“von Josef Strauß oder der Ouvertüre zu „Die Landstreicher“von Ziehrer. Schließlich habe ich mich für Ziehrer entschieden.
Werden Sie auswendig dirigieren?
Kurz habe ich das überlegt, aber ich werde es nicht tun. Es gab und gibt Dirigenten mit einem fotografischen Gedächtnis, wie Maazel oder Ozawa. Natürlich kann man ein Programm auswendig lernen, aber ich glaube nicht, dass das notwendig ist. Im Übrigen können Musiker gut aus den Augen eines Dirigenten lesen, ob er ganz sicher ist, was als Nächstes kommt.
Das Neujahrskonzert ist auch eine gute Gelegenheit, sich mit einer Botschaft an das Publikum zu wenden. Oder werden Sie es bei den traditionellen Wünschen mit den Philharmonikern belassen? Was sind Ihre Pläne als Orchesterchef in Leipzig und Boston und mit den Wiener Philharmonikern?
Mit den Wiener Philharmonikern, mit denen ich zuletzt alle Beethoven-Symphonien eingespielt habe, werde ich in Paris, Hamburg, München und selbstverständlich auch in Wiener Musikverein einen Beethoven-Zyklus bestreiten. Es gibt Überlegungen zu weiteren Aufnahmen, möglicherweise slawisches Repertoire. Die Philharmoniker mit ihrem unvergleichlichen Klangbild haben gerade hier eine besondere Tradition. Mit dem Boston Symphony Orchestra werde ich den Schostakowitsch-Zyklus fortsetzen, mit dem Gewandhausorchester die Einspielungen der Bruckner-Symphonien. Im Rahmen der Alliance-Partnerschaft beider Orchester wollen wir die Tondichtungen von Richard Strauss erkunden. Das ist eine ganz besondere Herausforderung, denn diese Klangkörper unterscheiden sich nicht nur in der Klangkultur, sondern haben auch eine andere Tradition. Dann würde ich mit dem Gewandhausorchester gern Mendelssohn, Schubert und Schumann aufnehmen, dafür hat es genau den richtigen Klang: dunkel und transparent. Der Klang der Bostoner wiederum ist sehr französisch inspiriert.
Und Oper?
Zuletzt habe ich in Covent Garden „Rosenkavalier“und „Lohengrin“dirigiert. Gern würde ich „Tristan“, „Parsifal“, auch den „Ring“, den ich bisher nur in Riga gemacht habe, aufführen – vielleicht in Zukunft in Bayreuth. Momentan weiß ich aber nicht, wie sich das alles neben meinen Verpflichtungen in Boston und Leipzig realisieren ließe. Schließlich dirigiere ich wenigstens einmal im Jahr auch die Berliner Philharmoniker und gastiere regelmäßig bei den Salzburger Festspielen. Dort steht 2020 mit den Wienern die Dritte Mahler auf dem Programm.