Leitartikel von Josef Urschitz ....................
Brechende Lieferketten und damit verbundene Versorgungsprobleme – etwa bei Medikamenten – werden uns eine Globalisierungsdiskussion bescheren.
D as Coronavirus bewirkt eine bessere Grippe, und die wirtschaftlichen Auswirkungen sind – abgesehen von einer Korrektur der ohnehin zu aufgeblasenen Börsenkurse – kaum zu spüren? Wer so denkt – und das tun noch viele –, sagt wahrscheinlich auch beim Sturz vom Hochhaus im Vorbeiflug am fünften Stockwerk: „Wunderbar, noch gar nichts passiert!“
Experten erinnert die Situation freilich eher an den Titel eines alten Bachman-Turner-Overdrive-Gassenhauers aus den Siebzigern: „You Ain’t Seen Nothing Yet“. Die Sache ist nämlich die: Hauptbetroffen ist China, einer der globalen Angelpunkte diverser Zulieferketten. Waren aus China brauchen auf dem Weg zu den europäischen Abnehmern sechs bis acht Wochen, davon vier bis sechs Wochen auf See. Was jetzt (noch) ungestört hereinkommt, ist Anfang bis Mitte Jänner, also vor der großen Quarantäne, die die chinesische Produktion zuletzt fast halbiert hat, abgeschickt worden.
Seither hat sich die Lage aber dramatisch gewandelt. Wie der Chef der EUHandelskammer in Peking, Jörg Wuttke, gestern in einem „Welt“-Interview sagte, sitzen um die 140 große Containerschiffe allein der beiden Großreedereien Maersk und Cosco in chinesischen Häfen fest, weil die Container von den Produktionsbetrieben ausbleiben. Diese hätten mit ihrer Ladung irgendwann ab Mitte März in Europa eintreffen sollen.
Spätestens Ende nächsten Monats wird es also zu größeren Lieferausfällen kommen. Im Fall von Konsumgütern ist das nicht tragisch: Wenn es eine Zeit lang keine batteriebetriebenen Winkekatzen in China-Shops gibt, wird das ebenso zu verschmerzen sein, wie wenn das neue iPad oder der Volvo ein paar Wochen oder Monate später eintreffen.
Ein nicht unbeträchtlicher Teil ist aber Zulieferung, beispielsweise Elektronikkomponenten. Da werden dann schnell europäische Produktionsanlagen stillstehen und die weiterlaufenden Kreditzahlungen für Insolvenzalarm sorgen. Vor allem aber: Die Pharmaindustrie hat einen Gutteil ihrer Wirkstoffproduktion nach Fernost ausgelagert. Zwei Drittel der Medikamentenwirkstoffe kommen unterdessen aus chinesischen (und, in kleinerem Ausmaß, indischen) Anlagen.
Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass die Weltwirtschaft in eine satte Rezession rutscht, zumal das Virus mit der Lombardei ja auch bereits eine industrielle Kernzone Europas zu lähmen beginnt. Der deutsche Starökonom Gabriel Felbermayr nennt die Epidemie deshalb schon die „größte Bedrohung für die Weltwirtschaft“. Die ja durch schwächelnde Industriekonjunktur und diverse Handelskriege ohnehin schon belastet ist.
W
enn dann auch noch Medikamentenmangel dazukommt, die Europäer die Krise also buchstäblich am eigenen Leib spüren – spätestens dann werden wir eine umfassende und intensive Diskussion über die Globalisierung haben. Beispielsweise über die Frage, ob es wirklich gut ist, die Medikamentenversorgung der gesamten Welt aus Kostengründen von einem oder zwei Ländern abhängig zu machen. Was ja auch aus geostrategischen Gründen nicht gerade ein Zeichen überbordender Intelligenz zu sein scheint.
Die ohnehin schon durch diverse Handelskonflikte und damit verbundene protektionistische Maßnahmen in Gang gekommene „Entkopplung“der Weltwirtschaft wird durch das Virus also wohl stark beschleunigt werden. Das hat ein paar Vorteile, etwa die Verringerung von Abhängigkeiten durch Diversifizierung der Produktion. Aber auch ein paar gravierende Nachteile, etwa eine deutliche Verringerung der geopolitischen Stabilität. Denn nichts fördert Frieden mehr als gegenseitige wirtschaftliche Verflechtung.
Jedenfalls werden wir uns von der Globalisierung, wie wir sie kennen, wohl verabschieden müssen, wenn das Coronavirus noch lang sein Unwesen treibt. Finanzexperten nennen es jetzt schon einen „Game Changer“. Gut möglich, dass das Virus, das derzeit die ganze Welt beunruhigt, auch für die Globalisierung zur tödlichen Gefahr wird. E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com