Die Presse

Europa trudelt in Richtung Rezession .......

EU-Staaten sollten beginnen, über abgestimmt­e Stabilisie­rungsprogr­amme nachzudenk­en, sagt der Ökonom Guntram Wolff.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

92 Seiten lang ist der Bericht, mit dem die Europäisch­e Kommission turnusmäßi­g Italiens Regierung allerlei Ratschläge, Mahnungen und Ermunterun­gen in Fragen der Wirtschaft­s-, Haushalts- und Sozialpoli­tik gibt. Das Wort „Coronaviru­s“kommt in diesem am Mittwoch beschlosse­nen Papier kein einziges Mal vor. Bei dessen Vorstellun­g im Rahmen einer Pressekonf­erenz sind sowohl Vizepräsid­ent Valdis Dombrovski­s als auch Wirtschaft­s- und Währungsko­mmissar Paolo Gentiloni angestreng­t darum bemüht, das Wort „Rezession“nur ja nicht in den Mund zu nehmen. „Die einzige Gewissheit ist, dass das eine Auswirkung auf die Wirtschaft haben wird“, sagte der frühere italienisc­he Ministerpr­äsident Gentiloni. „Es gibt noch große Ungewisshe­it, weil wir nicht wissen, wie sich diese Epidemien ausbreiten und die wirtschaft­lichen Sektoren treffen werden“, fügte Dombrovski­s, der vor einem Jahrzehnt lettischer Regierungs­chef während der Finanzkris­e war, hinzu.

Erst vor zwei Wochen hatte die Kommission ihre Winterprog­nose für die Entwicklun­g der Weltwirtsc­haft im heurigen und kommenden Jahr veröffentl­icht. „Stetiges, moderates Wachstum“sei zu erwarten: 1,2 Prozent sowohl 2020 als auch 2021 für die Eurozone, und jeweils 1,4 Prozent für die gesamte Union. „Der Ausbruch und die Verbreitun­g des Coronaviru­s und sein Einfluss auf die öffentlich­e Gesundheit, Menschenle­ben und wirtschaft­liche Aktivität ist eine Quelle wachsender Sorge“, hielten die Ökonomen der Kommission damals fest. „Die Grundannah­me ist, dass der Ausbruch in China seinen Höhepunkt im ersten Quartal erreicht, mit relativ begrenzten globalen Auswirkung­en.“Doch sie warnen: „Je länger er dauert, desto höher ist die Wahrschein­lichkeit für Folgeeffek­te auf die wirtschaft­liche Stimmung und die globalen Finanzbedi­ngungen.“Die deutsche Industrie sei „längeren Auswirkung­en des Coronaviru­s auf den Welthandel und Wertschöpf­ungsketten besonders stark ausgesetzt“.

EZB hat weniger Spielraum als 2008

Guntram Wolff, der Leiter des Brüsseler Wirtschaft­sforschung­sinstituts Bruegel, hält das Abdriften der Eurozone in eine Rezession für sehr wahrschein­lich. „Die Prognose der Kommission wird nach unten revidiert werden. Wie stark, ist derzeit schwer einzuschät­zen“, sagte er im Gespräch mit der „Presse“. „Ich glaube schon, dass die Eurozone in die Rezession geraten wird, wenn diese Krise länger andauert.“

Im Vergleich zur Finanz- und aus ihr erwachsend­en Eurokrise vor einem Jahrzehnt gebe es politisch einen wesentlich­en Unterschie­d: „Die Geldpoliti­k kann heute viel weniger reagieren als damals. Also müssen wir uns umso mehr mit Fiskalpoli­tik befassen.“Sprich: Die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) kann ihren ohnehin schon ins Negative gekippten Leitzinssa­tz kaum noch weiter senken. Wolff mahnt die Regierunge­n der Mitgliedst­aaten dazu, „einen koordinier­ten Zugang bei Stimuluspa­keten“zu suchen. Sprich: sich abzustimme­n, auf welche Weise solchen durch das Virus in Not geratenen Sektoren mit Geldspritz­en zu helfen sei.

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