Wiener Abgründe bei der Berlinale
Film. Gangster, „Schmarotzer“, künstliche Menschen: Die österreichischen Beiträge bei der Berlinale zeigen, wie man Figuren ernst nimmt, die allzu oft klischeehaft gezeichnet werden.
Die Leute gehen wieder mehr ins Kino. Auch in Österreich. Laut WKO und dem europäischen Kinoverband verzeichneten hiesige Lichtspielhäuser 2019 Besucherrekorde. Ein Jahr vorher klagte man noch über Publikumsschwund. Grund zur Freude? Vielleicht. Fragt sich nur, in welche Kinos die Zuschauer laufen. Und was sie sich dort ansehen. Unlängst schloss mit dem Bellaria eines der ältesten Kinos Wiens seine Pforten. Auch das Admiral in der Burggasse kämpft ums Überleben. Die Multiplexe mögen überquellen, viele Kleinbetriebe sitzen auf dem Trockenen.
Dabei sind sie es, die die Vielfalt der österreichischen Kinolandschaft instand halten. Nicht zuletzt, indem sie Filmemachern eine Plattform bieten – damit deren Blicke auch in Richtungen wandern können, die das rein kommerzielle Kino nicht auf dem Schirm hat. Bitter, sollte dieser Raum verschwinden. Denn die Austro-Filmemacher haben nach wie vor Asse im Ärmel. Davon kann man sich auch auf der Berlinale überzeugen: Einige österreichische (Co-)Produktionen sind hier in Nebenschienen zu sehen.
Das „Panorama“zeigt gleich zwei DokuPerlen, beide widmen sich Menschen, die oft per Schlagwort schubladisiert werden – und nehmen sie ernst. In „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“porträtieren Tizza Covi und Rainer Frimmel („Mister Universo“) zwei Legenden des Meidlinger Kriminals: Alois
Schmutzer, der für seine unbändige Löwenkraft bekannt war, und den 2019 verstorbenen Kurt Girk, der sich im Alter als Sänger von Wienerliedern verdient machte.
Einst waren sie aktiver Teil eines für handfeste bis tödliche Reibereien berüchtigten Glücksspielmilieus. Das Regieduo hat ihr Vertrauen gewonnen, ihre Geschichten gesammelt. Das Ergebnis ist ein in würdevollem Schwarz-Weiß gehaltener Interviewfilm, der in teils amüsanten, teils tragischen Anekdoten ein nahezu vergessenes Wien wiederauferstehen lässt. Und ein Gegennarrativ zum Gangstermythos spinnt, an dem sich damals nicht nur der Boulevard labte.
Alternativbilder bietet auch Lisa Webers zweiter Langfilm „Jetzt oder morgen“. Über drei Jahre lang begleitete sie die Familie eines ihr bekannten Mädchens mit der Kamera. Anfangs wollte sie Lebensentwicklungen festhalten. Doch diese lassen sich selten voraussagen. Nach der Montage des gesammelten Materials ist es nun ein Film über Leerlauf geworden: mäandernder Alltag im Simmeringer Gemeindebau, Zwistigkeiten und Versöhnungen, immer wieder Geburtstage – und die Mühen der jungen Mutter, sich zu irgendetwas aufzuraffen.
„Sozialschmarotzer“-Klischees unterläuft der Film mit emphatischer Zugewandtheit, wirft Schlaglichter auf Charisma, Talent und Temperament seiner Figuren, ohne ihre Krisen zu verbrämen. Das musikalische Leitmotiv, Whitney Houstons und Mariah Careys Ballade „When You Believe“, nimmt unter diesen Vorzeichen mehrdeutigen Charakter an: „There can be miracles / when you believe / though hope is frail / it’s hard to kill.“
Ob Sandra Wollner an Wunder glaubt? Wunderlich im unheimlichen Sinne ist jedenfalls ihr zweiter Spielfilm „The Trouble with Being Born“, der in der neu gegründeten Entdeckungssektion „Encounters“läuft. Sein Titel bezieht sich auf eine antinatalistische Aphorismensammlung des rumänischen Philosophen E. M. Cioran aus dem Jahr 1973. Doch es geht um Gegenwärtiges.
Der Film beginnt in einem abgeschiedenen Bungalow, wo sich ein Mann mit seiner Tochter die Zeit vertreibt. Denkt man zunächst. Doch ein unbehaglich sexueller Unterton schwingt in ihrer Beziehung mit. Überdies eignet dem Gesicht des Mädchens etwas Unwirkliches – haben wir es hier etwa mit einem Androiden zu tun? Wollner bringt Existenzielles aufs Tapet, sucht eine Auslotung des (Un-)Menschlichen im Zeitalter wuchernder Virtualität – und geht dafür auch ästhetische Wagnisse ein.
Genau wie Patric Chiha, dessen „Si c’etait´ de l’amour“(Panorama) sich gängigen Kategorien entzieht. Die Filmadaption von Gis`ele Viennes Techno-Tanzstück „Crowd“, dass 2018 bei den Wiener Festwochen lief, lädt zur Ekstase – im Sinne eines körperlichen Selbstverlusts dank trancehafter Zeitlupen-Choreografie, aber auch als schummriges Spiel mit Darstelleridentitäten.