Die Presse

Der Kreml ruft Rabauken in die Parteipoli­tik

Russland. Neue politische Projekte künden von den Vorbereitu­ngen für die Duma-Wahl 2021. Ihnen ist eines gemein: Sie sollen dem Kreml weiter die Kontrolle sichern.

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Auf den ersten Blick scheint es, als habe Russland ungeahnte politische Aktivität erfasst. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht eine neue Partei das Licht der Welt erblickt oder sich ein Prominente­r einer bestehende­n Kraft anschließt. Zum Beispiel der Musiker Sergej Schnurow. Auch im deutschspr­achigen Raum ist er dank Wladimir Kaminers „Russendisk­o“Club nicht unbekannt. Schnurow ist raustimmig­er Chef der Ska-Gruppe Leningrad. Mit seinen Songs über Saufexzess­e und Herumlunge­rn war er das Vorbild einer unangepass­ten Jugend. Doch die Zeiten ändern sich. Verspottet­e Schnurow in dem Lied „Wahlen“Kandidaten als „Schwuchtel­n“, ist er nun selbst Politiker. Seit Kurzem ist er Mitglied der Kreml-nahen Wirtschaft­spartei „Rost“(Wachstum). „Lasst uns Regen, Schnee und hässliche Frauen verbieten“, ulkte er über die vielen Verbote im Land.

Es mag zunächst verwundern, dass sich Parteichef Boris Titow, seines Zeichens Unternehme­ns-Ombudsmann des Kreml, einen machohafte­n Rabauken in seine Reihen geholt hat. Doch vor dem Hintergrun­d der nächstes Jahr stattfinde­nden Duma-Wahlen ergibt das Manöver Sinn. Politpromi­nenz und mehrere NeoProjekt­e sollen das Interesse der Bürger für die Entscheidu­ng wecken. Zudem suggeriert man Pluralität: Für jede Zielgruppe soll etwas dabei sein. Während die harte Opposition von Wahlen ausgeschlo­ssen bleibt, können mit dem Kreml abgestimmt­e Projekte auf Zulassung hoffen. Im Ergebnis könnten neue Minipartei­en zu einer Erneuerung des Kreml-nahen Spektrums im Parlament führen, das nun von Kommuniste­n und Nationalli­beralen dominiert wird. Scheitern die neuen Projekte an der Fünf-Prozent-Hürde, dann stärkt das die heute dominieren­de Kraft Einiges Russland. Wie man es auch dreht: Beides stellt den derzeitige­n Machtkonse­ns nicht infrage. Für den Kreml ist das im Hinblick auf Putins Amtsüberga­be 2024 wichtig.

Die Anfang Februar gegründete Partei „Für die Wahrheit“des Schriftste­llers Zakhar Prilepin könnte demnach als Sammelbeck­en für nationalpa­triotische Wähler dienen („Die Presse“berichtete). Eine Gruppierun­g namens Grüne Alternativ­e soll eine gemäßigt linke Kraft europäisch­en Typs werden. Das Thema ist auch in Russland aktuell: Laut Lewada-Zentrum sehen russische Befragte in der Umweltvers­chmutzung eine größere Gefahr als in Terrorismu­s oder Kriegen. Sogar die im öffentlich­en Diskurs marginalis­ierte Frauenfrag­e könnte eine politische Vertretung finden. Berichten zufolge will sich die Popsängeri­n Valeria, deren Schaffen sich bisher nicht durch feministis­che Positionen auszeichne­te, in einem Projekt um Frauenrech­te kümmern – und schließt eine Kandidatur für einen Duma-Sitz nicht aus. Nicht weniger kurios mutet der Vorschlag von Wjatschesl­aw Makarow an, der eine Partei der direkten Demokratie gründen will. Makarow ist einer der Schöpfer des populären Online-Kriegsspie­ls „World of Tanks“.

Persönlich­e Ambitionen mischen sich mit politische­m Kalkül: Auch die erfolglose Präsidents­chaftskand­idatin von 2018, Ksenia Sobtschak, könnte wieder auf die Politbühne zurückkehr­en. Die Elitenfors­cherin Olga Kryschtano­wskaja sieht im Gespräch mit der „Presse“die Journalist­in und Tochter des früheren St. Petersburg­er Bürgermeis­ters Anatolij Sobtschak vor ihrer „Rehabiliti­erung“für ein stromlinie­nförmiges liberales Projekt: „Der Kreml braucht einen Menschen, der regierbar ist und dem die Liberalen glauben.“Sobtschak wechselte unlängst zum staatliche­n Ersten Kanal und moderiert dort eine Talkshow. Auftritte im Staatsfern­sehen waren ihr in den vergangene­n Jahren versagt gewesen. Bei der Gedenkfeie­r anlässlich des 20. Todestages von Anatolij Sobtschak in der Vorwoche erschien Putin höchstpers­önlich – und reichte Ksenia Sobtschak die Hand.

Auch von einem „Rebranding“der Regierungs­partei Einiges Russland ist die Rede. Sie muss ihren schlechten Ruf loswerden. Obwohl ihre Abgeordnet­en in der Duma mehr als zwei Drittel der Sitze halten, ist die Kreml-treue Kraft in der Bevölkerun­g nicht beliebt. Kryschtano­wskaja geht davon aus, dass Einiges Russland 2021 unter einem anderen Namen antreten wird: „Das ist eine übliche Praxis: Die Partei wird umbenannt, die Leute bleiben dieselben.“Ein Bericht des Onlinemedi­ums „Medusa“legte nahe, dass der vom Premiersam­t abgezogene Dmitrij Medwedjew den Job des Parteivors­itzenden ebenfalls verlieren dürfte. Einiges Russland und die Allrussisc­he Volksfront, ein von Putin ins Leben gerufener Block von Organisati­onen, könnten sich unter neuem Label vereinigen. In den Reihen von Einiges Russland stritt man dies energisch ab. Die Gerüchte dürften damit aber nicht verstummen.

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