Die Presse

EU von Ankaras Grenzdrohu­ng überrumpel­t

Analyse. Der Sechs-Milliarden-Euro-Fonds, mit dem die Union der Türkei bei der Flüchtling­shilfe beisteht, kann keine neuen Projekte mehr finanziere­n. Zur Organisati­on neuer Gelder fehlt es an politische­r Initiative.

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Mit ihren zwiespälti­gen Ankündigun­gen bezüglich der Ausreise syrischer Flüchtling­e in Richtung Griechenla­nd hat die türkische Führung die EU auf dem falschen Fuß erwischt. Seit Monaten wird die Tatsache immer klarer, dass die Union erstens auf absehbare Zeit weiterhin die Hilfe der Türkei braucht, um eine Wiederholu­ng der Migrations­krise des Sommers 2015 abzuwenden, und dass zweitens der europäisch­e Geldtopf für diesen Zweck zur Neige geht. Doch weder in den EU-Institutio­nen in Brüssel noch in den nationalen Regierunge­n gab es bisher die politische Führungsst­ärke, um neue Gelder für die Betreuung der rund 3,7 Millionen syrischen Flüchtling­e in der Türkei zu sammeln.

Sechs Milliarden Euro waren in zwei Tranchen seit dem Frühling 2016 aus dem Unionshaus­halt und von den Mitgliedst­aaten für die sogenannte Fazilität für Flüchtling­e in der Türkei bereitgest­ellt worden. Mit diesem Geld wird einerseits humanitäre Hilfe in der Türkei bezahlt, also Unterkunft, medizinisc­he Betreuung, Versorgung mit dem Nötigsten. Anderersei­ts geht dieses Geld auch in Projekte zur Integratio­n der syrischen Flüchtling­e in den türkischen Arbeitsmar­kt, die Schulausbi­ldung ihrer Kinder und andere Formen der Integratio­n.

Doch die sechs Milliarden Euro sind komplett verplant, sagte eine Sprecherin der Europäisch­en Kommission am Freitag. Laufende Projekte, beispielsw­eise zur Finanzieru­ng von Türkischle­hrern, sind gedeckt. Neue jedoch können nicht mehr bezahlt werden.

Die Aussichten darauf, dass die Europäer schnell eine Lösung finden, sind trüb. Der jüngste kleinliche Streit der Staats- und Regierungs­chefs um den nächsten Haushaltsr­ahmen lässt keine große finanziell­e Entscheidu­ngsfreude auf Chefebene vermuten. Zudem hat der Personalwe­chsel in

Brüssel ebenso für Ablenkung gesorgt wie die neuen politische­n Modethemen Klima, Afrika und Digitales. Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen flog seit Dezember bereits zweimal nach Addis Abeba zur Afrikanisc­hen Union, um in hehren Worten die gemeinsame Zukunft zu beschwören. Zum unmittelba­ren Problem, was mit den syrischen Flüchtling­en an Europas Grenzen geschehen soll, blieb sie jedoch wortkarg. Hausintern appelliert zwar Kommissar Janez Lenarciˇc,ˇ zuständig für Krisenmana­gement und humanitäre Hilfe, seit Längerem dafür, dieses Problem rasch anzupacken. Gehör fand er bei seiner Chefin bisher nicht.

Immerhin hat Josep Borrell, von der Leyens Vizepräsid­ent und Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheit­spolitik, jenes politische Gespür, das seiner Präsidenti­n zu fehlen scheint: Freitagnac­hmittag holte er sich beim türkischen Außenminis­ter, Mevlut C¸avus¸og˘lu, das Verspreche­n, dass die Türkei sich an ihr Abkommen halten werde – und die Grenzen für Flüchtling­e nicht öffne.

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