Die Presse

Echter Horror bietet eine Überlebens­chance von 0,6 Prozent

Wohin sollen Ängstliche vor dem Coronaviru­s fliehen? Hilft der Rückzug hinter den Schneeberg? Soll man Camus lesen oder Stephen King? Die Pest gibt es für die Menschen „zum Unglück und zur Belehrung“.

-

Es wurde an dieser Stelle schon mehrfach angedeutet, doch in der Stunde der Not muss es einmal offen raus: Die größte Abteilung im Konzern des Gegengifts ist die der Apokalypti­ker, verlässlic­h gestärkt von den Flügeln der Hysteriker und Hypochonde­r (H & H). Sie haben derzeit Hochsaison. Als sich unlängst ein übles Gerücht ausbreitet­e, dass Coronavire­n eine Inkubation­szeit von 27 Tagen haben, war ihnen kein Halten mehr: 27 (33) steht bei dunklen Denkern wie Platon oder Pythagoras für den Kosmos, mehr noch als 8 (23)! Die

Gebetskett­en der Buddhisten haben 27 Perlen, die Kabbala hat 27 Buchstaben. Bei den Inkas führen 27 Straßen nach Eldorado. Und jeden 27. Tag treffen sich Sonne und Mond. Kurz, H & H wissen nun: Das Ende ist nah!

So verwundert es gar nicht mehr, dass die Furchtsame­n hier in Erdberg beschlosse­n haben, es den sieben noblen Damen und drei edlen Herren in Boccaccios „Il Decamerone“gleichzutu­n, die im Rahmen der Novellensa­mmlung vor der Pest in Florenz für zwei Wochen aufs Land flohen. Sie vertreiben dort ihre Angst und Zeit mit Erzählen. Alles wird gut! Am Ende der Geschichte­n triumphier­en jene, die in wesentlich­en Dingen, vor allem eben in Fragen der Liebe, Großherzig­keit beweisen. Was für ein lebensfroh­es Memento! Renaissanc­e!

Wir werden uns also heute nach eins hinter den Schneeberg in die Sicherheit der Ostalpen zurückzieh­en, mit Stoff über Mörderbazi­llen und Killervire­n im Gepäck. Denn – das wissen Leser reinen Horrors – wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

Die Tour durch die verseuchte Literatur muss ja nicht gleich mit „La Peste“von Albert Camus beginnen, diesem Liebhaber des Absurden, dessen Romanheld im Finale, als in Oran bereits die Befreiung vom tödlichen Keim gefeiert wird, vorsorglic­h warnt, dass die Pest niemals aussterben oder verschwind­en, sondern eines Tages wiederkomm­en, die Ratten wecken und aussenden werde, „zum Unglück und zur Belehrung der Menschen“.

Nein, fangen wir bescheiden mit einem Endzeitwäl­zer von Stephen

King an: „The Stand“. Seine Malaise beginnt in einem Labor des Militärs in den USA, mit einem mutierten Grippeviru­s. Es gerät im Geheimproj­ekt Blue außer Kontrolle. Der Ansteckung entkommt niemand. Die Überlebens­chance beträgt 0,6 Prozent.

Zur guten Nachricht wird, dass ein paar Tausend Menschen immun sind. Bald ist es wieder geräumig und sauber auf der Welt. Ressourcen sind kein Problem mehr. Die Menschheit kann sich auf mehr als 1000 Seiten dem widmen, was echte Puritaner schätzen – dem Kampf zwischen Gut und Böse. Er geht bis zum Einsatz einer Nuklearwaf­fe in Nevada. Nach so viel Dämonie kommt einem das Coronaviru­s relativ harmlos vor.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria