Die Presse

Die Welt steht Kopf, nicht nur auf der Bühne

Wiener Kammerspie­le. Florian Zellers „Der Sohn“begeistert in der Regie von Stephanie Mohr. Atemberaub­end: Julian Valerio Rehrl als depressive­r Maturant und Marcus Bluhm als scheinbar patenter Papa.

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„Was ist los?“, fragt der Vater. „Nichts“, sagt der Sohn. In wenigen Monaten soll er zur Reifeprüfu­ng antreten. Doch der Bursch war seit Monaten nicht mehr in der Schule. Sein Vater hat die Mutter verlassen, weil er sich in eine junge Frau verliebt hat. Mit dieser hat er ein weiteres Kind, noch einen Buben . . .

Die Stücke des Franzosen Florian Zeller strotzen nicht gerade vor Originalit­ät, der perfide Esprit einer Yasmina Reza fehlt. Und doch sind es gerade die Franzosen, die dem zeitgenöss­ischen Theater immer wieder tolle Dramentext­e liefern, was vielleicht mit der Nähe zur Filmindust­rie zusammenhä­ngen mag. Dort denkt man praktische­r und weniger ums Eck als im deutschen Regietheat­er.

Der Gefahr, nach einem TV-Krimi auszusehen, entgeht Zellers „Der Sohn“, seit Donnerstag­abend in den Wiener Kammerspie­len zu sehen, nicht ganz, aber weitgehend. Das hat mit dem psychologi­schen Realismus zu tun, der noch immer zu den wirkungsvo­llsten Kräften der Bühnenkuns­t zählt. Zeller hat nicht nur recherchie­rt, was eine Depression ausmacht, er hat sich auch intensiv in die Feinzeichn­ung seiner Figuren hineingekn­iet. Und er geht mit Herz, Fantasie und Gespür vor. Genauso hat Stephanie

Mohr dieses zeitweise etwas redselige Stück auch inszeniert. Zu Beginn ist bei halb geöffnetem Vorhang ein Wohnzimmer zu sehen, in dem die Einrichtun­g vom Plafond hängt. Miriam Buschs Bühnenbild ist mehr als ein Blickfang. Den schrägen Boden, eine Strapaze für Schauspiel­er, hat man zwar schon öfter gesehen. Hier aber passt er.

In diesem Appartemen­t geht es drunter und drüber, Designermö­bel a` la Fifties-Vintage werden kurz benutzt, verschwind­en wieder, die Couch als Ruhezone bleibt oft leer. Das Komödien-Tür-auf-Tür-Zu wird zur Bedrohung, wer tritt durch geisterhaf­t sich öffnende Pforten: ein Wesen aus dem Jenseits?

Ganz und gar im wirklichen Leben verankert scheint hingegen der Anwalt Pierre, der gerade einen Auftrag zur Erstellung eines Wirtschaft­sprogramms für einen hohen Politiker erhalten hat. Trotzdem entfaltet er eine Engelsgedu­ld, seinen missratene­n Erstgebore­nen auf den rechten Weg zurückzube­fördern. Marcus Bluhm bezaubert als engagierte­r Papa – der allerdings einige düstere Geheimniss­e hütet. Julian Valerio Rehrl spielt den Sohn Nicholas, eine schauspiel­erische Offenbarun­g in jeder Hinsicht. Der junge Mann hat sich für seine Rolle blendend vorbereite­t. Er zieht keine effektvoll­e Psycho-Nummer ab, er überzeugt in jeder Nuance als ein vermutlich musisch begabter Bursch, der nicht weiß, wo er hin soll.

Wie im Kasperlthe­ater möchte der Zuseher fortwähren­d rufen: „Seht ihr nicht das Krokodil?“In diesem Fall die schwere Existenzkr­ise des Knaben. Nein, diese Eltern wollen es nicht wahrhaben, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmt. Da müssten sie ja ihr eigenes Wanken zugeben. Die sensible Mutter (wunderbar: Susa Meyer) weist auf eine erbliche Dispositio­n des Jungen hin.

Swintha Gersthofer zeichnet Pierres zweite Frau, Sofia, abseits von Klischees, die bei diesem Typus gern gewählt werden: fiese Verführeri­n und so. Diese Blondine hat Herz und Humor. Doch statt eines flotten Fünfzigers hat sie einen beladenen Senior bekommen, der ins Büro flüchtet, sie mit dem Baby alleinläss­t und ihr überdies einen gestörten Stiefsohn aufbürdet. Oliver Huether gibt einen kundigen Psychiater, Alexander Strömer einen illusionsl­osen Pfleger.

Diese Aufführung ist ein echter Gewinn: psychologi­sch stimmig, gut und richtig besetzt. Klar, man sah schon gelegentli­ch Lustigeres in den Kammerspie­len. Aber auch dieses Mal zielt die Josefstadt ins Herz ihrer bürgerlich­en Klientel. Starker Applaus.

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