Freiheit? Selbstausbeutung!
Kino. Ken Loach, Veteran des britischen Sozialrealismus, kann das Filmemachen nicht sein lassen. Sein jüngstes Drama schildert die Auswirkungen eines Zustellerjobs auf eine Familie.
Er habe keine Lust mehr darauf, ständig Leute im Nacken sitzen zu haben, meint Ricky. Nervige Vorgesetzte, faule Kollegen, wer hält das auf lange Sicht aus? Endlich einmal sein eigener Chef sein, das muss doch gehen! Es geht. Rickys neuer Chef – Verzeihung: Selbstständigkeitscoach – freut sich über die Eigeninitiative des Mittvierzigers. Und erklärt ihm, wie der Hase beim Zustelldienst läuft. Er wird nicht eingestellt, sondern an Bord geholt. Er arbeitet nicht für die Firma, sondern mit ihr. Er ist kein Fahrer, sondern Dienstleister. Lohn? Gage! Willkommen in der Freiheit.
Oder auch nicht. Dass der Film „Sorry We Missed You“kein Hohelied der Gig Economy singen wird, merkt man schon am leicht herablassenden Tonfall des bulligen Machers, der Ricky (Kris Hitchen) in der Eröffnungsszene seine neuen Arbeitsbedingungen schmackhaft macht. Cineasten reicht für besagte Erkenntnis bereits der Name des Regisseurs: Ken Loach, Altmeister des Sozialrealismus, erhebt hier neuerlich Anklage gegen die (Beschäftigungs-)Verhältnisse in Großbritannien.
Eigentlich wollte Loach ja schon vor einer Weile den Regiehut an den Nagel hängen. Doch der Ärger des erklärten Linken über die Entwicklungen in seinem Land trieb ihn zurück auf die Kino-Barrikaden. „I, Daniel Blake“, eine schnörkellose Kritik am bürokratisierten Gesundheitssystem Englands, vermochte wie Loachs frühe TV-Klassiker a` la „Cathy Come Home“(1966) eine nationale Debatte anzustoßen – und bescherte dem inzwischen 83-Jährigen 2016 seinen zweiten Hauptgewinn bei den Filmfestspielen von Cannes.
Auch „Sorry We Missed You“lief vergangenes Jahr dort, ging jedoch leer aus. Dabei verhandelt er sein Thema mit kaum weniger griffiger Dringlichkeit. Schon bei der ersten Ausfahrt Rickys geht alles Mögliche schief: Parktickets, falsche Adressangaben, respektlose Kunden. Die Zeitfenster für Lieferungen sind knapp bemessen. Selbst wenn man zwischendurch in Plastikflaschen pinkelt, wie ein Kollege empfiehlt, sind Fehler programmiert. Und werden von einem Tracking-System festgehalten. Was Strafzahlungen nach sich zieht.
Mit der ihnen eigenen Mischung aus Sachlichkeit und Sentiment schildern Loach und sein Stamm-Drehbuchschreiber Paul Laverty, wie Rickys Job die Stützen seines Daseins unterhöhlt. Da Ricky und seine Frau, Abbie (Debbie Honeywood), seit der
Finanzkrise auf Schulden sitzen, verkaufen sie zwecks Dienstwagenkaution ihr Auto – was Abbies Tätigkeit als ambulante Pflegerin massiv erschwert. Der kreativ veranlagte Sohn gerät indes auf die schiefe Bahn, weil sein Vater keine Zeit mehr für ihn hat. Präzise zeichnet der Film, was passiert, wenn Selbstausbeutung zur gesellschaftlichen Norm wird: Eigentlich sind hier alle unaufhörlich am Arbeiten, wozu ja auch Haushaltsplanung und Kindererziehung gehört.
Die stetige und unerbittliche Zuspitzung der Lage verleiht dem Drama Schärfe. Manchmal droht das Ganze aber auch in Schematismus zu kippen. Wie „I, Daniel Blake“spielt „Sorry We Missed You“im nordenglischen Newcastle und verfährt wieder im Modus einer von sporadischen Lichtblicken und Humorflecken aufgelockerten Tragödie. Doch die Wucht des Cannes-Siegers erreicht sie nicht ganz. Fast alles hier wirkt ein bisschen schludriger: vom etwas gar zu frühreifen Sprachduktus von Rickys Kindern über den funktionalen Charakter mancher Szene bis hin zum demonstrativen Schicksalsschlag im Endspurt. Dennoch bemerkenswert, wie wenig von seiner kritischen Energie Loach auf seine alten Tage verloren hat. Bei der Premiere von „Sorry We Missed You“flirtete er wieder mit dem Ruhestand. Warten wir’s ab.