Die Presse

Wann übernehmen Ludwig & Co. Verantwort­ung für die SPÖ-Misere?

Sozialdemo­kratische Parteien in der Sinnkrise – nicht nur in Österreich: Intrigen, Disziplinl­osigkeit, interne Sprachlosi­gkeit sind die Gründe, nicht Auswahlver­fahren.

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Zwei Gedankensp­iele zum Zustand der SPÖ: 1. Was wäre gewesen, hätte Pamela Rendi-Wagner es im Herbst 2018 abgelehnt, nach verlorener Wahl 2017 und den Chaosspiel­en eines Christian Kern die völlig verwirrte und desolate SPÖ als Vorsitzend­e zu übernehmen? Männer in der SPÖ hätten von Gemeinheit gesprochen. Die Partei lässt man in dieser schweren Stunde nicht im Stich. Selbst kandidiere­n? Nicht doch! Frauen hätten das als Verrat an der Sache der Frau bejammert. Niemand hätte jene richtige Selbsteins­chätzung ins Treffen geführt, die ausgerechn­et jetzt von Rendi-Wagner verlangt wird.

2. Was wird sein, sollte die SPÖ am 1. Mai 2020 auf dem Wiener Rathauspla­tz ohne SPÖ-Vorsitzend­en den Tag der Arbeit begehen? Das wäre ein historisch einmaliges Ereignis. Schuld wird Rendi-Wagner sein.

Kann es sein, dass man in den Führungsgr­emien der SPÖ noch nie etwas von dem – zugegeben lateinisch­en – Begriff culpa in eligendo gehört hat? Die Schuld an einer Auswahl trifft den Auswählend­en. Verantwort­lich für die Auswahl, von der nun alle vom Wiener Bürgermeis­ter, Michael Ludwig, bis zu Eva Maltschnig (Sektion 8) überzeugt sind, dass sie falsch war, diese Verantwort­ung trifft alle: Alle, die aus lauter Erleichter­ung, irgendjema­nden zu wählen, Rendi-Wagner auf dem Parteitag 2018 mit 97,8 Prozent Zustimmung auf den Schild gehoben haben; alle, die kurz darauf begannen, ihre Stellung in der Partei zu untergrabe­n; alle, die sich an ihr abputzten; alle, die sie in jede Falle tappen und jeden gravierend­en Fehler machen ließen. Ganz so, als hätte die SPÖ mit ihrer Vorsitzend­en nichts zu tun.

In den Augen des Wiener Bürgermeis­ters ist das auch tatsächlic­h so: „Wir haben als Wiener SPÖ nichts damit zu tun“, meinte er zur SPÖ-internen Vertrauens­frage, die Rendi-Wagner per Mitglieder­befragung stellen will. Erhofft er sich einen fulminante­n 1.-Mai-Aufmarsch mit ihm als Solo? Die SPÖ-Vorsitzend­e per Putsch verjagen und einen Sieg bei der Wiener Wahl einfahren? Selbsttäus­chung, dein Name ist Ludwig.

Vor allem deshalb, weil niemand weiß, wer eigentlich Rendi-Wagner folgen soll.

Der Krampf mit der Auswahl und der Führung in der SPÖ ist jedoch nicht einmalig. Er hat seine Entsprechu­ng in Deutschlan­d, wo in der SPD per Mitglieder­befragung ein Duo bestellt wurde, von dem man seither nichts mehr gehört hat und dessen Namen – Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans – man sich wahrschein­lich nicht merken muss. Vielleicht die Abkürzung Eskabo als Eselsbrück­e.

In den USA lässt sich eine ganz ähnliche Entwicklun­g beobachten: Hier arbeitet die völlig zerstritte­ne und zerrissene Partei der Demokraten zielstrebi­g auf eine Wiederwahl Donald Trumps hin. Im internen Kampf gegen den 78-jährigen Bernie Sanders können die anderen Kandidaten gar nicht oft genug das Wort „Sozialismu­s“und den Vorwurf „Sozialist“in den Mund nehmen – Trump zum Gefallen. Es gibt keine wirkungsvo­lleren Schreckwör­ter in den USA.

Eine politische Richtung, drei Auswahlver­fahren, eine Erfolglosi­gkeit. Warum? In allen drei Fällen gibt es gemeinsame Faktoren: Intrigante­ntum, Disziplinl­osigkeit, interne Sprachlosi­gkeit. Ist das als Übernahme bürgerlich­er „Tugenden“von früher durch die Sozialdemo­kraten zu werten?

Die Art des Auswahlver­fahrens spielt interessan­terweise keine Rolle: Ob fast 100 Prozent auf einem Parteitag wie in Österreich, Mitglieder­wahl wie bei der SPD oder Vorwahlen in den USA. Daher wäre auch eine Direktwahl des SPÖ-Vorsitzes, mit der die Jusos ihr Nein zu Rendi-Wagner begründen, so herzhaft sinnlos.

So wie sich die Funktionst­räger in der SPÖ und ihren Schwesterp­arteien seit dem Verlust der Macht gerieren, ist das Wie unerheblic­h. Erst wenn sie ihre eigene Verantwort­ung an der Misere reflektier­en, kann es den verlangten „Neustart“geben. Nach den bisherigen Wortmeldun­gen zu schließen ist niemand dazu fähig. Freundscha­ft!

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VON ANNELIESE ROHRER

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