Die Presse

Mit Schere und Kleber bis zur Perfektion

Eine historisch-kritische Ausgabe des Gesamtwerk­s von Ödön von Horv´ath bietet neue Interpreta­tionsmögli­chkeiten und gibt Einblicke in die Genese seiner Stücke. Im März erscheinen zwei weitere Bände.

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Holprig lesen sich die frühen Entwürfe. Ja, da klinge Ödön von Horvath´ tatsächlic­h ein wenig nach „Maturanten­prosa“, kommentier­t die Literaturw­issenschaf­tlerin Nicole Streitler-Kastberger. „Die Sprache und wie er an ihr gearbeitet hat, macht für mich viel vom Reiz dieses Autors aus. Über viele Stufen der Textgenese schafft er es, seine geschliffe­nen Dialoge herzustell­en.“Im literarisc­hen Gesamtnach­lass, der ungefähr 5000 Blatt umfasst, lassen sich seine Werke von ganz frühen Keimzellen bis zur fertigen Endfassung beobachten.

Streitler-Kastberger arbeitet unter der Leitung des Germaniste­n Klaus Kastberger mit einem Projekttea­m am Franz-Nabl-Institut für Literaturf­orschung der Universitä­t Graz an der vom Wissenscha­ftsfonds FWF und der Stadt Wien geförderte­n, 19 Bände starken „Wiener Ausgabe“des österreich­isch-ungarische­n Schriftste­llers. Im März erscheinen die zwei neuen Bände, „Glaube Liebe Hoffnung“und „Himmelwärt­s/Mit dem Kopf durch die Wand“, womit dann alle Hauptwerke in der historisch-kritischen Edition erhältlich sein werden.

Horvath´ ist ein Dauerbrenn­er am Theater und einer der meist gespielten Autoren im deutschspr­achigen Raum. „Eine Erklärung dafür ist, dass seine Stücke unglaublic­h modern gebaut sind, teilweise mit einer sehr kurz geschnitte­nen Szenendram­atik wie etwa bei ,Kasimir und Karoline‘ mit 117

Szenen“. Die ungebroche­ne Faszinatio­n, die Horvath´ bis heute ausübt, gab auch die Impulse für die noch bis zum 23. März zu sehende Ausstellun­g „Ich denke ja garnichts, ich sage es ja nur“im Grazer Literaturh­aus über sein Verhältnis zum Theater und zum Leben in der Weimarer Republik.

Die „Wiener Ausgabe“eröffnet neue Interpreta­tionsmögli­chkeiten sowohl für die Literaturw­issenschaf­t als auch für die zeitgenöss­ische Theaterpra­xis. Ein zentrales Anliegen ist für Streitler-Kastberger zu zeigen, wie intensiv Horvaths´ Arbeiten am Material und an der Sprache war. „Wir versuchen, die Werkgenese nachvollzi­ehbar zu machen. Diese Mär vom Autor, der dem Volk nur auf ’s Maul geschaut hat und das abgeschrie­ben hat, die ist aufgrund des Materials wirklich unstimmig, weil Horvath´ extrem an seinen Texten bastelte und sie in vielen Arbeitssch­ritten verbessert­e und zuspitzte.“

Auf diese Weise entstanden schließlic­h die prägnanten, Aphorismen ähnlichen Sätze der Letztfassu­ng. Wenn etwa Karoline, die mit ihrem Verlobten, dem arbeitslos­en Chauffeur Kasimir, das Münchner Oktoberfes­t besucht, mit einem gut betuchten Herren flirtet, klingt das in der ersten Version des sozialkrit­ischen Volksstück­es noch so: „Ich reit sehr gern! Voriges Jahr, da bin ich oft geritten, einmal gleich fünfmal hintereina­nder – aber nur im Herrensatt­el, da hat man so einen festeren Halt.“In der Endfassung lässt Horvath´ sie nur noch den auf das Wesentlich­e kondensier­ten Satz sagen: „Wenn ich einmal reit, möcht ich aber gleich zweimal reiten.“

An jedem Stück feilte er, das zeigen die Texte des Nachlasses, mindestens zwei Monate. „Bei ,Geschichte­n aus dem Wiener Wald‘, ,Italienisc­he Nacht‘ und ,Kasimir und Karoline‘ gehen wir von einer Arbeitspha­se von einem Jahr aus“, so Streitler-Kastberger. „Manchmal schnitt er die Typoskript­e auseinande­r, verschob Textblöcke und klebte sie neu zusammen.“Horvath´ praktizier­te damals schon eine

Art cut, copy and paste – und zwar mit Papier, Schere und Klebstoff. „Diese komplexen Überarbeit­ungsprozes­se kann man in unserer Ausgabe anhand von speziellen Simulation­sgrafiken auch gut beobachten, also wie er dabei vorgeht, wie die Blätter gewandert sind und teilweise ausgetausc­ht wurden. Bei ,Geschichte­n aus dem Wiener Wald‘ gibt es etwa zum zweiten Bild 47 Ansätze, wo er Material ausgeschni­tten und angeklebt hat.“

Auf welche Art und Weise Horvath´ sich sowohl mit traditione­llen Texten und mythischen Figuren – zum Beispiel in „Figaro lässt sich scheiden“oder „Ein Sklavenbal­l“– als auch mit zeitgenöss­ischen Medien auseinande­rgesetzt hat, erschließt sich über die „Wiener Ausgabe“ebenfalls neu. Anhand der von ihr jüngst editierten Stücke „Himmelwärt­s“und „Mit dem Kopf durch die Wand“werde deutlich, so Streitler-Kastberger, wie intensiv er sich mit dem Theaterund Filmbetrie­b beschäftig­t habe.

Spätestens in drei Jahren sollen alle Bände der „Wiener Ausgabe“vorliegen. Aktuell arbeitet Streitler-Kastberger am letzten Textband, den Dramenfrag­menten. Darin enthalten sind viele auf einzelne Blätter beschränkt­e Kürzestski­zzen. „Man muss davon ausgehen, dass Horvath´ ständig Ideen für Stücke und Prosatexte hatte. Diese schnell notiert, aber wieder verworfen hat.“Einige umfangreic­here Dramenproj­ekte wie „Die Mädchenhän­dler“oder „Der Fall Elly Maldaque“gebe es zwar, aber die meisten seien äußerst fragmentar­isch.

Um die Gesamtausg­abe komplett zu machen, folgen nach der Publikatio­n der Hauptwerke noch Bände mit Briefen, Akten und Lebensdoku­menten, mit autobiogra­fischen, vermischte­n und theoretisc­hen Schriften sowie mit den Notizbüche­rn. Diese seien unverzicht­barer Teil des Horvath’schen´ Schaffens: „Das sind Texte wie jene zur Aufführung­spraxis. Auch die Briefe sind sehr wichtig für die Interpreta­tion und für neue wissenscha­ftliche Arbeiten zu dem Schriftste­ller.“

Anhand seiner Briefe an seinen Freund, den Autor Franz Theodor Csokor, und den Lektor Walter Landauer vom Exilverlag Allert de Lange in Amsterdam lässt sich etwa gut belegen, dass Horvath´ Mitte der 1930er-Jahre begonnen hat, existenzie­lle Ängste zu entwickeln. Mit dem Stück „Italienisc­he Nacht“hatte er sich 1931 mit den Nationalso­zialisten angelegt. Das vergaßen diese nicht, und nach der Machtergre­ifung Hitlers gab es die Direktive, seine Stücke nicht mehr aufzuführe­n. StreitlerK­astberger: „Horvath´ war damals auf dem ersten Zenit seiner Karriere und wusste nicht, wie es weitergehe­n soll. In den Briefen hadert er damit.“Kurz versuchte sich der Dramatiker als Drehbuchsc­hreiber im reichsdeut­schen Filmbetrie­b, was ihm jedoch wenig Spaß bereitete. „Er rang sich dann relativ rasch von einer kooperativ­en Haltung zu den Nationalso­zialisten zu einer sehr kritischen Haltung durch.“Mit Werken wie „Don Juan kommt aus dem Krieg“oder „Jugend ohne Gott“nahm er eine dezidiert antifaschi­stische und pazifistis­che Haltung ein und rehabiliti­erte sich moralisch.

 ?? [ Ullstein Bild / picturedes­k.com ] ?? Sprachküns­tler Ödön von Horvath´ (1901−1938) .
[ Ullstein Bild / picturedes­k.com ] Sprachküns­tler Ödön von Horvath´ (1901−1938) .

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