Auf gleicher Wellenlänge
Soziale Neurowissenschaften zeigen, dass Musik im richtigen Moment Patienten helfen kann. Im Kremser Josef-ResselZentrum wird die Wirkung genau belegt.
Wer von einer Hirnschädigung – etwa nach einem Schlaganfall oder durch ein Schädel-Hirn-Trauma – betroffen ist, lernt oft nur sehr langsam, sich wieder im Alltag zurechtzufinden, ist bisweilen depressiv und auch für Therapien nicht leicht zu motivieren. Etliche international publizierte Studien konnten jedoch in den vergangenen Jahren belegen, dass es manchmal durch Musik in dieser schwierigen frühen Phase der Neurorehabilitation gelingt, die Brücke zum Patienten zu schlagen. Moments of Interest (MOI) nennt man in der Musiktherapie solche Augenblicke. Sie können zum Beispiel aus der gemeinsamen Wahrnehmung einer musikalischen Begegnung entstehen, aus der Erfahrung, sich musikalisch auszudrücken, oder dem Gefühl, sich verstanden zu wissen.
Der Erforschung dieses „Richtigen Moments“(Right Moment) bei Menschen nach Schlaganfall widmet sich derzeit eine Projektgruppe am Josef-Ressel-Zentrum (JRZ) zur Grundlegung einer personalisierten Musiktherapie der IMC Fachhochschule Krems. Das Zentrum arbeitet in dem Projekt mit der britischen Anglia Ruskin University Cambridge, der FH Gesundheit in Innsbruck und der FH St. Pölten zusammen.
Die Forscher erheben durch qualitative Interviews und Videoanalysen, welche Momente als interessant oder bedeutsam in der Therapie erlebt werden. Durch parallel geschaltete Hyper Scanning EEGs wird zudem erhoben, wie sich die EEG-Muster solcher spezieller Momente darstellen und ob dabei eine Synchronisation der Hirnaktivität von Therapeut und Patient entsteht. Um diese Momente evidenzbasiert beschreiben zu können, wendet Gerhard Tucek, Leiter des JRZ und des Kremser Instituts für Therapiewissenschaften, das Modell der sozialen Neurowissenschaften an.
„Die sozialen Neurowissenschaften zeigen, dass Menschen in lebensbedrohlichen Krisen auf das Wort ähnlich vulnerabel reagieren wie Kinder auf das Wort der Bezugsperson“, sagt Tucek. „Wir wissen heute, dass wir mittels Musik und sorgsam gewählter Worte in der Lage sind, das Immunsystem zu beeinflussen.“
Man wisse zudem, dass sich die Verweigerung von emotionaler Resonanz in einem gemeinsamen sozialen Bedeutungsraum – etwa einem klinischen Behandlungssetting – nicht nur auf die Psyche schlage, sondern auch auf die Biologie. „Mit anderen Worten wird das Schmerzzentrum im Gehirn nicht nur bei manifestem physischen Schmerz aktiviert, sondern auch bei der Empfindung von sozialer Isolation“, so Tucek.
Allein aus dieser Erkenntnis lasse sich bereits die Bedeutung von Empathie und ihrer gezielten Schulung für professionelle Beziehungen im Alltag der Klinik erahnen, wo Patienten neben der Grunderkrankung auch psychisch in einem höchst verletzlichen Zustand seien.
Empathieforschung ist – neben den Thematiken Right Moment (Moment of Interest) und Right Period (der optimalen Erholungsphase zwischen Therapien) – der dritte Forschungsschwerpunkt am Kremser JRZ. Da durch empathische Zuwendung von Therapeuten die Angst- und Stressreaktionen von Patienten reduziert werden können, wird der Frage nachgegangen, wie man in der Ausbildung Empathie lehren und auch wie man sie messen kann. Als Kultur- und Sozialanthropologe ist Tucek für einen Musiktherapie-Forscher überdurchschnittlich breit aufgestellt. Dieser Umstand mag dazu beitragen, dass auch die Forschungsthemen des Kremser JRZ oft nicht nur von musik-, sondern von allgemeintherapeutischer Bedeutung sind.
„Musiktherapie vermag eben, Aspekte im klinischen Alltag zu fördern, die andere Berufsgruppen nicht so deutlich wahrnehmen“, sagt Tucek. Allgemein werde in der Therapieforschung mehr Augenmerk auf therapiemethodische Fragestellungen gelegt als auf beziehungsorientierte Themen.
Daher sei für viele Berufsgruppen der Gedanke, dass ein Therapieerfolg nicht ausschließlich von methodischen Aspekten, sondern zu einem nicht geringen Prozentsatz auch von zwischenmenschlichen Qualitäten abhänge, nahezu Neuland, sagt Tucek. „Mehr als zwei Jahrzehnte meiner praktischen Tätigkeit als Musiktherapeut haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, neben der Fokussierung auf therapeutische Methoden auch die ,Humanisierung‘ des klinischen Alltags zu vertiefen.“