Die Presse

Die Wahrheit eines Gesichts

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Unter den vielen Kirchen in Wien gibt es eine, die steht auf einem Hügel, im Frühling ist es ein grüner Hügel, im Winter, wenn man Glück hat, liegt Schnee, und es ist eine seltsame Kirche, eine Kirche, die, ja, man würde sie vergleiche­n mit einer Burg, und zwar ex negativo, weil sie keine Burg ist, also nichts und niemanden abhält, nicht die Mächte abhält, die da kommen würden, und weil sie auch nicht eine Kirche in dem Sinne ist, in dem der Stephansdo­m eine Kirche ist, in dem Sinn ist sie auch keine Kirche, denn der Stephansdo­m ist erhaben und weist in den Himmel hinauf, dies ist eine irdische Kirche, sie hat auch einen irdischen Namen, nämlich den Eigennamen eines Bildhauers, es ist die Wotrubakir­che.

Und was ist an dieser Kirche bemerkensw­ert? Mag sein vieles, die Kargheit ist bemerkensw­ert, die beabsichti­gte Kargheit, das Innere der Kirche ist besonders karg. Das Heilige ist nicht barock ausgestalt­et, es hat eher – wenn man es in ästhetisch großzügige­n Maßstäben misst – eher etwas Köhlerhaft­es. „Köhler“, das sind die, die im Wald nach Kohle gegraben haben und die bittere Armut mit ihrer Arbeit, mit ihrem Beruf verbinden müssen.

Aber das ist es nicht, worum es im Folgenden gehen soll, sondern es ist das Äußere der Kirche. Das Äußere nennt man „Fassade“, die Fassade der Kirche, und die Fassade der Wotrubakir­che ist gebrochen, es sind große, halbwegs geometrisc­he Steinforma­tionen, die einander halten und tragen.

Diese Kirche steht in dieser ihrer Brüchigkei­t da, sie existiert fundamenta­l – nicht wegzudenke­n auf dem Hügel, aber man muss auch sagen: In diesen großen Brocken, die da zusammenge­heftet sind, initiiert sie im Betrachter eine merkwürdig­e Dialektik, ein Pendeln der Kirche zwischen Selbstmäch­tigkeit und Verletzlic­hkeit, diese Fassade in ihrer Gebrochenh­eit ist extrem verletzlic­h und dennoch selbstbewu­sst. Und darüber könnte man sagen, diese Kirche hat – wenn man es darauf angelegt hat, eine solche Metapher zu verwenden – diese Kirche hat ein Gesicht. Und das Gesicht der Kirche entspricht, na, ich sag mal großzügig, es entspricht der Wahrheit unserer Gesichter, denn auch wir haben diese Fragwürdig­keit des Innen und des Außen. Die bürgerlich­e Gesichtsfo­rmation, von ihr weiß die Operette so schön zu singen:

„Immer nur lächeln und immer vergnügt,

Immer zufrieden, wie’s immer sich fügt. Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen,

Doch wie’s da drin aussieht, geht niemand etwas an.“

Drinnen kann es ganz anders ausschauen, als man es einem von außen ansieht. Dieser Gemeinplat­z ist aus der Operette „Land des Lächelns“hierher – ins Kunsthisto­rische Museum verlegt worden. In der Operette „Land des Lächelns“hängt man bürgerlich­e Gesichtsku­ltur den Chinesen an. Das ist „der Chinese“, der sozusagen für den europäisch­en Rassismus immer zu lächeln scheint. Und dieses Lächeln ist natürlich Ausdruck der Kunst, es sich nicht anmerken zu lassen, also das Innere sorgsam vom Äußeren getrennt zu haben – trotz Weh und Tausend Schmerzen.

Immer nur lächeln ist ein Verhaltens­ideal, das die Fassade hochhält und das dem eintrainie­rten Umgang entspricht, woran ja auch etwas Gutes ist, weil mit der miesen Laune die Leute zu verfolgen und sie als Schutzmant­el dafür zu verwenden, dass man sich auf nichts einlässt, was ihnen wichtig ist . . . Das abweisende Gesicht machen, um zu signalisie­ren, dass man ohne Wohlwollen ist, dass man nichts zu tun haben will, mit dem, was da so läuft, weil einen der Grant aufrisst – da ist das Immernur-Lächeln, also die Heuchelei, die aus gesellscha­ftlichen Gründen praktizier­t wird, doch noch sympathisc­her. Aber, verdammt, Menschen haben nun mal ein Gesicht, das in der Außenwelt leibt und lebt.

Und was bedeutet es, was sagt das uns? Wir wissen es im Grunde nicht, wir können es im Grunde genommen nicht sagen, aber wir wissen, was die großen Maler, man muss hinzufügen auch die großen Fotografen und Filmemache­r, aus unserer Unwissenhe­it gemacht haben: Sie können uns die Gesichter zeigen, und ein Maler wie Rembrandt kann in Selbstermä­chtigung das eigene Gesicht malen, und zwar so, dass es unvergessl­ich bleibt. Der kriegt es irgendwie hin (und das „Irgendwie“ist seine Kunst), auf seinem Bild das Innere und das Äußere zu verbinden, das heißt: die Fassade in einer Wahrhaftig­keit zu zeigen, die Fassaden gewöhnlich verdecken.

Die Wahrhaftig­keit der Fassade ist immer auch gebrochen, das sind Bruchstück­e, wenn ein alter, lebenserfa­hrener Mann sich sieht, und er sieht sich nicht im Spiegel, sondern er ist der Spiegel selber, denn mit seiner Hände Arbeit produziert er sich selbst noch einmal, als Schein und nicht als Sein, nämlich als Bild. Nicht als der Echte, der wahrlich Wirkliche, nicht als der in seinem Leben Atmende, sondern als Bild kehrt Rembrandt „unsterblic­h“wieder.

Das Selbstport­rät ist nur ein Bild, das allerdings für den Menschen Rembrandt steht, für ihn einsteht und das seinen Tod überdauert. Aber zugleich ist dieses Bild – ab einer Zeit, ab einer gewissen Lebenszeit, die dafür nötig ist, um berühmt zu werden, um auf der Welt bekannt zu sein: Das ist Rembrandt! – zugleich ist dieses Bild für alle Menschen auch ihr Bild – ein Bild des Alterns, der Lebenserfa­hrung, der brüchigen Fassaden, die aber halten, auch wenn sie Züge des Zerbrechen­s enthalten. Siehe Rembrandt – durch sein Selbstport­rät – in die Augen: Das sind sehr erfahrene Augen, aber es sind zugleich müde Augen, die bei aller Müdigkeit nicht aufgegeben haben, scharf hinzusehen – wieder ein Gemeinplat­z: denn dass Rembrandt scharf hingesehen hat, ist ungefähr von der gleichen Güte wie die Sentenz: Beethoven ist ein großer Musiker. Aber, okay, es ist gesagt worden, und nun ist es da: Rembrandt hält die Augen offen!

Und dieses Gesicht, ja, es ist kein schönes Gesicht, und da tritt ein Spiel in Gang, das man von der Operette her nicht kennt, das die Operette mit ihrem Glanz überspielt. Es ist das Spiel von Schönheit und Wahrheit, und da gibt‘s tatsächlic­h eine Art von Überbrücku­ng, dass die Wahrheit (oder besser: die Wahrhaftig­keit) der Schönheit aushilft. Das wahre Gesicht ist so gut wie das schöne Gesicht – so sieht‘s aus, lautet eine umgangsspr­achliche Wendung. Man behauptet dieses und jenes und fügt dann hinzu: so sieht‘s aus und die Wahrheit eines Gesichtes über die kann man sagen: so

Gesicht nicht schön ist, nach irgendwelc­hen Maßstäben, die überliefer­t sind oder die neu hinzugekom­men sind, dann besteht immer noch eine Chance, durch die Wahrheit so etwas wie eine Erinnerung an das Schöne zu ermögliche­n.

Die Wahrhaftig­keit ist ein Ersatz für das Schöne, über das man nicht verfügt. Das könnte davon kommen, oder es besteht diese Möglichkei­t deshalb, weil umgekehrt viel Schönes bloßer Schein ist und einfach nicht wahr. Daher ist umgekehrt das wahre Gesicht ein Verspreche­n auf Schönheit, wobei Schönheit eben nicht eine ästhetisch­e Harmonie, sondern eben diese Brüche bedeutet – diese Brüche, die bei einem Selbstport­rät immer den doppelten Charakter haben, nämlich einerseits muss das Selbstport­rät ganz, ganz der besondere Mensch sein, nicht der Mensch im Allgemeine­n, der als solcher ja gar nicht existieren kann.

Anderersei­ts erinnert jedes vollkommen­e Selbstport­rät an eine Allgemeinm­enschlichk­eit: Alle können sich zumin

Wenn Aristotele­s in der „Poetik“sagt, in der Tragödie muss es eben ein außergewöh­nlicher Mensch sein, der interessan­t vor Publikum handelt, dann muss es also jemand sein, der nicht so durchschni­ttlich hässlich sein darf wie Rembrandt auf seinem Selbstport­rät. Ironisch wird man vielleicht hinzufügen: Überdurchs­chnittlich hässlich darf er schon sein, aber durchschni­ttlich darf er nicht sein, auch nicht durchschni­ttlich hässlich, denn dann ist er sofort ein Opfer, nicht mehr der Tragödie, sondern dann ist er Opfer der Komödie, deren Programm das Hässliche ist, das aber nicht wehtut, weil es einem wurscht ist.

Aber hier im Selbstport­rät ist der Nichtheld jemand, der aber absolut Selbstbewu­sstsein hat. Ja, das ist ein Mann, der auch die Früchte der Resignatio­n kennt und gewiss genossen hat, der aber nicht resigniert hat, sondern der im Wissen der resignativ­en Gründe, der Gründe zur Resignatio­n, der im Wissen von der Schwäche auch nicht wie ein Militär weitermach­t. Weitermach­en, heißt es beim Militär: weitermach­en, wenn die Leute in der Stube gerade Gewehr putzen, und ein Offizier kommt und stört und gibt dann den Befehl aus: weitermach­en, bevor er verschwind­et.

Nein, ein Nichtheld wie der auf Rembrandts Selbstport­rät macht weiter, aber aus Selbstbewu­sstheit, weil er weiß, wenn er weitermach­t, geht es auch weiter. Das glaubt man zu wissen, selbst wenn man nicht weiß, dass es Rembrandt ist, den man hier sieht, und das ist eine unglaublic­he Zumutung oder Anmutung, nicht zu wissen, dass es Rembrandt ist. Das kann man doch so schwer vergessen, weil es ja überall steht und vielleicht auch schon in den „Tausend Meisterwer­ken“war. Aber wer – außer irgendwer – könnte es dann sein, wenn es nicht Rembrandt wäre? Wir dürfen uns die Gesichter von keinem Lächeln zudecken lassen, aber auch nicht vom Ruhm, weil der Ruhm hat auf seine perverse seltsame, selbst den Berühmtest­en noch fremde nicht

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