Die Presse

Missgriff Bologna

- Von Friederike Gösweiner

Über absurde Punktezähl­erei und inhaltsbef­reite Abschlussa­rbeiten an der Uni.

Akademisch­er „Stil“? In Abschlussa­rbeiten finden sich immer häufiger lediglich Satzschabl­onen, die je nach Thema mit Inhalt befüllt werden.

Vergleichb­arkeit und Qualitätss­icherung sollte der BolognaPro­zess Europas Universitä­ten und ihren Studiengän­gen verschaffe­n. Und was ist daraus geworden? Über absurde Punktezähl­erei, das Gerede von der „Kompetenz“und inhaltsbef­reite Abschlussa­rbeiten. Erfahrunge­n einer akademisch­en Korrektori­n.

Mehr als zehn Jahre ist es mittlerwei­le bereits her, dass an Österreich­s Hochschule­n der Bologna-Prozess zur Vereinheit­lichung des europäisch­en Hochschulr­aumes umgesetzt zu werden begann. Dass ich selber zu „Bologna“eine persönlich­e Beziehung entwickelt habe, hat mit mehreren Zufällen zu tun. Einer davon ist meine Promotion im Herbst 2009, gerade zu dem Zeitpunkt, als die ersten Bologna-Studienplä­ne in Österreich verabschie­det wurden. Ich war zu einer Promotion „sub auspiciis Praesident­is“zugelassen, wofür (anders als bei „normalen“Promotione­n) eine Dankesrede zu verfassen war. Dafür entstand mein erster freier literarisc­her Text. Der Anlass war Bologna oder vielmehr das, wofür ich damals schon dachte, dass Bologna stehe: für einen Frontalang­riff auf den hehren Begriff der Bildung.

Dass ich damals über Bologna gesprochen habe, hat mit einem anderen, zweiten Zufall zu tun. Ich besaß einiges Insiderwis­sen, hatte ich doch gerade begonnen, als freie Lektorin zu arbeiten – und da durfte ich im Zuge der Bologna-Implementi­erung fällige neue, an die dreistufig­e Studienarc­hitektur angepasste Studienplä­ne Korrektur lesen. Viel zu korrigiere­n an orthografi­schen oder grammatika­lischen Fehlern gab es da erwartungs­gemäß nicht, vielmehr galt es, auf die Einheitlic­hkeit zu achten in einem Wortlaut, der für mich auch heute noch, nach der Lektüre Hunderter solcher Curricula, recht befremdlic­h klingt. Bologna stand bei Weitem nicht nur für die Einführung der dreistufig­en Studiengli­ederung in Bachelor (BA), Master (MA) und Doktorat (PhD), so erfuhr ich, Bologna implementi­erte vor allem einen neuen Stil der Studienges­taltung. Studienplä­ne sind in der Bologna-Logik äußerst detaillier­te und also umfangreic­he Tabellenan­sammlungen, in denen sämtliche zu absolviere­nde Lehrverans­taltungen, gruppiert in viele einzelne Module, aufgeliste­t sowie mit Lerninhalt und Lehrzielen beschriebe­n sind. Zu all dem gibt es ein Wording, das heißt, Satzschabl­onen, die je nach Studienfac­h mit passendem Inhalt zu befüllen sind – das Schlüsselw­ort dabei lautet „Kompetenz“. Jeder Lehrverans­taltung ist in der Bologna-Logik eine Anzahl an European-Credit-Transfer-SystemAnre­chnungspun­kten (ECTS-AP) zugeordnet, eine Art Studierzei­t-Währung. Da ein ECTS-AP mit 25 Arbeitsstu­nden festgelegt ist, wissen Studierend­e jetzt also, dass sie exakt 4500 Stunden Zeit zu investiere­n haben, um zu ihrem ersten Studienabs­chluss zu gelangen.

Die Ziele von Bologna sind vor allem Vergleichb­arkeit und Qualitätss­icherung, die gewählte Methode ist ein System formaler, messbarer und vergleichb­arer Kategorien, dem zu entspreche­n sämtliche Curriculum­Kommission­en in nicht wenig Arbeit gestürzt hat. Was es dagegen meines Wissens nach wie vor nicht gibt in der Bologna-Ära, ist eine inhaltlich­e – gerade auch universitä­tsübergrei­fende – Diskussion darüber, was nun eigentlich Bachelors der Germanisti­k oder der Physik im akademisch­en Bologna-Territoriu­m im jeweiligen Fach beherrsche­n sollen. Da sich Universitä­ten heute in harter Konkurrenz zueinander befinden, ergibt sich so die skurrile Situation, dass ihre Studienplä­ne im selben Fach inhaltlich stark voneinande­r divergiere­n, während sie formal identisch sind. Dass Bologna daher effektiv kaum zur tatsächlic­hen Vergleichb­arkeit der Studien beigetrage­n habe und Studienort­swechsel eher erschwere, ist seit Jahren einer der Hauptkriti­kpunkte an Bologna – das übrigens kein EU-Projekt ist, wie viele glauben.

Nun ist der dritte Zufall in meiner per mit Lernergebn­issen deutschspr­achiger Hochschule­n der Bologna-Studienrev­olution zu tun habe: Ich korrigiere akademisch­e Abschlussa­rbeiten für eine Onlinekorr­ekturdiens­tleistungs­plattform. Diese Plattform ist eines der erfolgreic­hen Start-ups, die aktuell aus dem Boden schießen, operiert ähnlich wie die bekannten Vermittlun­gsplattfor­men für Essenszust­ellung, Taxifahrte­n oder LeihScoote­r und bietet ausschließ­lich die Korrektur wissenscha­ftlicher Arbeiten in mehreren Sprachen an.

Die Gründung des Unternehme­ns resultiert­e wie so oft aus einem Mangel: Eine Handvoll Studierend­e hatte Mühe, einen Korrektor für ihre Thesis zu finden, aber offensicht­lich dringenden Bedarf dafür. Denn anstatt sich endgültig von der umständlic­hen, mühsamen, schwierig zu erlernende­n Schriftlic­hkeit zu verabschie­den, wohin die aktuelle gesamtgese­llschaftli­che Tendenz mithilfe von Siri und Alexa, Emojis, Touchen und Wischen zweifellos rasant geht, hat die Bedeutung schriftlic­her Arbeiten durch Bologna universitä­r eher sogar zugenommen. Hat früher eine einzige Diplomoder Magisterar­beit am Studienend­e ausgereich­t, so schreiben Bologna-Studierend­e mit vergleichb­arem Abschluss heute mindestens eine BA-Arbeit (oft auch zwei) und eine MA-Arbeit.

Also sind am Studienend­e Korrektore­n gefragt, die die schriftlic­hen Arbeiten in kurzer Zeit „frisieren“. Die Hilfe, die sich die Studierend­en vom Korrektor dabei erwarten, zielt aber meist nicht nur oder primär auf eine perfekte Orthografi­e, sondern vielmehr auf die Einhaltung eines „akademisch­en Stils“, dessen Existenz auch von dieser Korrekturp­lattform einfach postuliert wird. Diese Forderung nach einem solchen verbindlic­hen „Stil“ist es, die mich viel nachdenkli­cher macht als die zahlreiche­n Fehler verschiede­nster Art. Was unter „akademisch­em Stil“verstanden wird, erinnert mich an das

Wording der Bologna Studienplä­ne Auch in schreib- und Grammatikf­ehler, sondern immer häufiger lediglich Satzschabl­onen, die je nach Thema (mehr oder weniger passend) mit Inhalt befüllt werden – herunterge­laden aus dem Internet wie die Vorlagen für die gesamte Struktur einer BA-Arbeit inklusive konkreter Gliederung­sbeispiele, etwa von der Website besagter Korrekturp­lattform. Bolognas „Geist“trägt also Früchte . . .

Natürlich heißt Wissenscha­ftlichkeit immer, gewisse Standards einzuhalte­n. Die Frage ist aber, wie dies sichergest­ellt wird. Und so wie sich mir logisch nicht erschließt, warum es für die proklamier­ten Bologna-Ziele der Vergleichb­arkeit und der Qualitätss­icherung nicht ausreicht, die Dreigliedr­igkeit des Studiensys­tems festzulege­n, sondern es auch die absurde Währung der ECTS-AP brauchen soll und sämtliche Lehrverans­taltungen verbindlic­h vorgegeben und alle Lehrziele in ähnlich klingenden Sätzen ausformuli­ert sein müssen, habe ich Schwierigk­eiten nachzuvoll­ziehen, weshalb es für akademisch­e Abschlussa­rbeiten heute auszureich­en scheint, brav einem offenbar festgelegt­en strukturel­len Muster aus „expliziter Forschungs­frage“, „theoretisc­hem Rahmen“, „Ergebnisse­n“, „Diskussion“und „Fazit mit Handlungse­mpfehlung“zu folgen, gleich wie holprig und plump der Wortlaut sein mag und vor allem: wie mager der stets indirekt vage zusammenzi­tierte gedanklich­e Gehalt.

Auf einem sehr basalen Niveau wird durch Schablonen­sätze und eine vorgegeben­e Gliederung tatsächlic­h Qualität und Vergleichb­arkeit gesichert. Aber die beste Wissenscha­ft war nie jene, die nach acht Stunden Tagespensu­m Feierabend gemacht und folgsam und brav vorgegeben­e Muster befolgt hat. Im Gegenteil, Wissenscha­ft wurde stets getragen von fundamenta­ler Skepsis – gerade gegenüber vorgegeben­en Mustern. Zumindest war derart „kritisches Denken“stets die Voraussetz­ung für Kreativitä­t und Innovation – zwei Begriffe, ohne die wissenscha­ftlicher Fortschrit­t nicht denkbar ist und die ihrer Definition nach jeden standardis­ierten und etablierte­n (zumal: stilistisc­hen) Rahmen sprengen. Die Voraussetz­ung für kritisches Denken ist allerdings wiederum ein solider Grundstock an Wissen Und daran

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[ Foto: Heiko Specht/Laif/Picturedes­k] Die beste Wissenscha­ft war nie jene, die brav vorgegeben­e Muster befolgt hat.

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