Missgriff Bologna
Über absurde Punktezählerei und inhaltsbefreite Abschlussarbeiten an der Uni.
Akademischer „Stil“? In Abschlussarbeiten finden sich immer häufiger lediglich Satzschablonen, die je nach Thema mit Inhalt befüllt werden.
Vergleichbarkeit und Qualitätssicherung sollte der BolognaProzess Europas Universitäten und ihren Studiengängen verschaffen. Und was ist daraus geworden? Über absurde Punktezählerei, das Gerede von der „Kompetenz“und inhaltsbefreite Abschlussarbeiten. Erfahrungen einer akademischen Korrektorin.
Mehr als zehn Jahre ist es mittlerweile bereits her, dass an Österreichs Hochschulen der Bologna-Prozess zur Vereinheitlichung des europäischen Hochschulraumes umgesetzt zu werden begann. Dass ich selber zu „Bologna“eine persönliche Beziehung entwickelt habe, hat mit mehreren Zufällen zu tun. Einer davon ist meine Promotion im Herbst 2009, gerade zu dem Zeitpunkt, als die ersten Bologna-Studienpläne in Österreich verabschiedet wurden. Ich war zu einer Promotion „sub auspiciis Praesidentis“zugelassen, wofür (anders als bei „normalen“Promotionen) eine Dankesrede zu verfassen war. Dafür entstand mein erster freier literarischer Text. Der Anlass war Bologna oder vielmehr das, wofür ich damals schon dachte, dass Bologna stehe: für einen Frontalangriff auf den hehren Begriff der Bildung.
Dass ich damals über Bologna gesprochen habe, hat mit einem anderen, zweiten Zufall zu tun. Ich besaß einiges Insiderwissen, hatte ich doch gerade begonnen, als freie Lektorin zu arbeiten – und da durfte ich im Zuge der Bologna-Implementierung fällige neue, an die dreistufige Studienarchitektur angepasste Studienpläne Korrektur lesen. Viel zu korrigieren an orthografischen oder grammatikalischen Fehlern gab es da erwartungsgemäß nicht, vielmehr galt es, auf die Einheitlichkeit zu achten in einem Wortlaut, der für mich auch heute noch, nach der Lektüre Hunderter solcher Curricula, recht befremdlich klingt. Bologna stand bei Weitem nicht nur für die Einführung der dreistufigen Studiengliederung in Bachelor (BA), Master (MA) und Doktorat (PhD), so erfuhr ich, Bologna implementierte vor allem einen neuen Stil der Studiengestaltung. Studienpläne sind in der Bologna-Logik äußerst detaillierte und also umfangreiche Tabellenansammlungen, in denen sämtliche zu absolvierende Lehrveranstaltungen, gruppiert in viele einzelne Module, aufgelistet sowie mit Lerninhalt und Lehrzielen beschrieben sind. Zu all dem gibt es ein Wording, das heißt, Satzschablonen, die je nach Studienfach mit passendem Inhalt zu befüllen sind – das Schlüsselwort dabei lautet „Kompetenz“. Jeder Lehrveranstaltung ist in der Bologna-Logik eine Anzahl an European-Credit-Transfer-SystemAnrechnungspunkten (ECTS-AP) zugeordnet, eine Art Studierzeit-Währung. Da ein ECTS-AP mit 25 Arbeitsstunden festgelegt ist, wissen Studierende jetzt also, dass sie exakt 4500 Stunden Zeit zu investieren haben, um zu ihrem ersten Studienabschluss zu gelangen.
Die Ziele von Bologna sind vor allem Vergleichbarkeit und Qualitätssicherung, die gewählte Methode ist ein System formaler, messbarer und vergleichbarer Kategorien, dem zu entsprechen sämtliche CurriculumKommissionen in nicht wenig Arbeit gestürzt hat. Was es dagegen meines Wissens nach wie vor nicht gibt in der Bologna-Ära, ist eine inhaltliche – gerade auch universitätsübergreifende – Diskussion darüber, was nun eigentlich Bachelors der Germanistik oder der Physik im akademischen Bologna-Territorium im jeweiligen Fach beherrschen sollen. Da sich Universitäten heute in harter Konkurrenz zueinander befinden, ergibt sich so die skurrile Situation, dass ihre Studienpläne im selben Fach inhaltlich stark voneinander divergieren, während sie formal identisch sind. Dass Bologna daher effektiv kaum zur tatsächlichen Vergleichbarkeit der Studien beigetragen habe und Studienortswechsel eher erschwere, ist seit Jahren einer der Hauptkritikpunkte an Bologna – das übrigens kein EU-Projekt ist, wie viele glauben.
Nun ist der dritte Zufall in meiner per mit Lernergebnissen deutschsprachiger Hochschulen der Bologna-Studienrevolution zu tun habe: Ich korrigiere akademische Abschlussarbeiten für eine Onlinekorrekturdienstleistungsplattform. Diese Plattform ist eines der erfolgreichen Start-ups, die aktuell aus dem Boden schießen, operiert ähnlich wie die bekannten Vermittlungsplattformen für Essenszustellung, Taxifahrten oder LeihScooter und bietet ausschließlich die Korrektur wissenschaftlicher Arbeiten in mehreren Sprachen an.
Die Gründung des Unternehmens resultierte wie so oft aus einem Mangel: Eine Handvoll Studierende hatte Mühe, einen Korrektor für ihre Thesis zu finden, aber offensichtlich dringenden Bedarf dafür. Denn anstatt sich endgültig von der umständlichen, mühsamen, schwierig zu erlernenden Schriftlichkeit zu verabschieden, wohin die aktuelle gesamtgesellschaftliche Tendenz mithilfe von Siri und Alexa, Emojis, Touchen und Wischen zweifellos rasant geht, hat die Bedeutung schriftlicher Arbeiten durch Bologna universitär eher sogar zugenommen. Hat früher eine einzige Diplomoder Magisterarbeit am Studienende ausgereicht, so schreiben Bologna-Studierende mit vergleichbarem Abschluss heute mindestens eine BA-Arbeit (oft auch zwei) und eine MA-Arbeit.
Also sind am Studienende Korrektoren gefragt, die die schriftlichen Arbeiten in kurzer Zeit „frisieren“. Die Hilfe, die sich die Studierenden vom Korrektor dabei erwarten, zielt aber meist nicht nur oder primär auf eine perfekte Orthografie, sondern vielmehr auf die Einhaltung eines „akademischen Stils“, dessen Existenz auch von dieser Korrekturplattform einfach postuliert wird. Diese Forderung nach einem solchen verbindlichen „Stil“ist es, die mich viel nachdenklicher macht als die zahlreichen Fehler verschiedenster Art. Was unter „akademischem Stil“verstanden wird, erinnert mich an das
Wording der Bologna Studienpläne Auch in schreib- und Grammatikfehler, sondern immer häufiger lediglich Satzschablonen, die je nach Thema (mehr oder weniger passend) mit Inhalt befüllt werden – heruntergeladen aus dem Internet wie die Vorlagen für die gesamte Struktur einer BA-Arbeit inklusive konkreter Gliederungsbeispiele, etwa von der Website besagter Korrekturplattform. Bolognas „Geist“trägt also Früchte . . .
Natürlich heißt Wissenschaftlichkeit immer, gewisse Standards einzuhalten. Die Frage ist aber, wie dies sichergestellt wird. Und so wie sich mir logisch nicht erschließt, warum es für die proklamierten Bologna-Ziele der Vergleichbarkeit und der Qualitätssicherung nicht ausreicht, die Dreigliedrigkeit des Studiensystems festzulegen, sondern es auch die absurde Währung der ECTS-AP brauchen soll und sämtliche Lehrveranstaltungen verbindlich vorgegeben und alle Lehrziele in ähnlich klingenden Sätzen ausformuliert sein müssen, habe ich Schwierigkeiten nachzuvollziehen, weshalb es für akademische Abschlussarbeiten heute auszureichen scheint, brav einem offenbar festgelegten strukturellen Muster aus „expliziter Forschungsfrage“, „theoretischem Rahmen“, „Ergebnissen“, „Diskussion“und „Fazit mit Handlungsempfehlung“zu folgen, gleich wie holprig und plump der Wortlaut sein mag und vor allem: wie mager der stets indirekt vage zusammenzitierte gedankliche Gehalt.
Auf einem sehr basalen Niveau wird durch Schablonensätze und eine vorgegebene Gliederung tatsächlich Qualität und Vergleichbarkeit gesichert. Aber die beste Wissenschaft war nie jene, die nach acht Stunden Tagespensum Feierabend gemacht und folgsam und brav vorgegebene Muster befolgt hat. Im Gegenteil, Wissenschaft wurde stets getragen von fundamentaler Skepsis – gerade gegenüber vorgegebenen Mustern. Zumindest war derart „kritisches Denken“stets die Voraussetzung für Kreativität und Innovation – zwei Begriffe, ohne die wissenschaftlicher Fortschritt nicht denkbar ist und die ihrer Definition nach jeden standardisierten und etablierten (zumal: stilistischen) Rahmen sprengen. Die Voraussetzung für kritisches Denken ist allerdings wiederum ein solider Grundstock an Wissen Und daran