Türkei droht mit Öffnung der Grenzen
Syrien-Krieg. Die Türken erleiden hohe Verluste in der Schlacht um Idlib. Nun droht Ankara, den Weg für Flüchtlinge freizumachen, um Hilfe vom Westen zu erhalten.
Ankara droht dem Westen, den Weg für Flüchtlinge nach Europa freizumachen.
Das Ziel heißt Stuttgart: Anas ist 27 Jahre alt und ein syrischer Medizinstudent aus Aleppo. Zusammen mit seiner Frau und seinen drei und sechs Jahre alten Kindern ist er am Freitagmorgen zur Vatan Caddesi gekommen, einer Istanbuler Ausfallstraße zur Autobahn Richtung Westen. Mehrere Reisebusse stehen hier bereit, die Flüchtlinge an die rund drei Fahrtstunden entfernte Grenze zwischen der Türkei und Griechenland bei Edirne bringen sollen. „Wir haben in sozialen Medien von den Bussen gehört“, sagt Anas. Die Eltern seiner Frau leben in Stuttgart – nun will die Familie auch dorthin. Hundert US-Dollar pro Passagier kostet die Fahrt an die Grenze.
Dass Anas samt Familie jetzt im Bus sitzt, hat mit Verlusten der Türkei im Krieg in der syrischen Provinz Idlib rund tausend Kilometer südöstlich von Istanbul zu tun. Ein anderer Passagier, ein 24-jähriger Student aus dem Süden Syriens, hat sich mit seiner Schwester und seinem kleinen Bruder drei Tickets besorgt. Die Eltern wurden im Krieg getötet, nun wollen sie nach Norwegen.
Nur leichtes Gepäck haben die meisten dabei: eine kleine Reisetasche, mehr nicht. An diesem kühlen Morgen – die Sonne bricht nur langsam durch den Frühnebel – herrscht bei den Reisenden keine Jubelstimmung. Mehrere Flüchtlinge an der Vatan Caddesi sagen, in der Türkei, die 3,6 Millionen Syrer aufgenommen hat, gebe es für sie keine Perspektive. „Es sind einfach zu viele Syrer hier“, sagt ein junger Mann, der sich bisher mit Jobs im Textilsektor durchgeschlagen hat und jetzt in die EU will.
Ein junges Ehepaar mit einem etwa einjährigen Kind steigt im letzten Moment aus dem Bus wieder aus: „Wir haben Angst um unser Kind“, sagt der Vater. „Wir wissen ja nicht, wie es nach der Grenze weitergeht.“
Eigentlich hat sich die Türkei im Flüchtlingsabkommen mit der EU von 2016 verpflichtet, Syrer an der Flucht nach Europa zu hindern. Doch nun sollen die Flüchtlinge drei Tage lang freie Fahrt nach Westen erhalten, melden türkische Medien. Die Syrer an der Vatan Caddesi sagen, sie hätten von einer 24-stündigen Frist gehört. Bei Edirne waren schon in der Nacht die ersten Syrer aufgetaucht, die auf den Grenzübergang Pazarkule zuliefen, ohne dass die türkischen Grenztruppen einschritten.
Immer mehr Syrer treffen an der Abfahrtstelle an der Vatan Caddesi ein, um einen Platz in einem der Busse zu ergattern. Der erste Bus fährt gegen 8 Uhr MEZ los, der zweite eine Stunde später. Syrische Aktivisten sagen, sie hätten die Busse angemietet. Ein Sprecher der türkischen Regierungspartei AKP hatte am Vorabend gesagt, sein Land könne die Flüchtlinge nicht mehr halten.
Ankara will beschwichtigen
Doch will Ankara wirklich die Tore öffnen? Am Nachmittag melden türkische Medien von der Landgrenze zu Griechenland, Flüchtlinge würden von den türkischen Behörden abgewiesen. Griechenland und Bulgarien verstärken die Grenztruppen. Einigen Personen soll es trotzdem gelungen sein, die Grenze zu überqueren, auf der griechischen Insel Lesbos kommen Flüchtlingsboote an. Von einer Massenflucht wie 2015 kann aber keine Rede sein. Das Außenamt in Ankara erklärt, es gebe keine grundsätzliche Änderung der Flüchtlingspolitik. Die Türkei will offenbar ein Signal an Europa schicken, ohne die EU zu sehr zu verärgern.
Dass Erdogan˘ nun vorübergehend das Abkommen mit der EU aussetzt, ist ein Zeichen von Verzweiflung: Die Türkei steht in Syrien vor einem Desaster und will den Westen zum Eingreifen bewegen. Mindestens 33 türkische Soldaten waren am späten Donnerstagabend bei einem Luftangriff in der syrischen Provinz Idlib ums Leben gekommen. Die Soldaten hatten in einem Rathaus und einem anderen Gebäude südlich der Provinzhauptstadt Idlib übernachtet, als die Bomben fielen. Die Opfer wurden unter den einstürzenden Gebäudeteilen begraben. Damit sind seit Anfang des Monats mehr als 50 türkische Soldaten in Idlib getötet worden.
Russland hat Lufthoheit in Idlib
Auch Erdogans˘ Syrien-Politik liegt in Trümmern. Er hatte die türkische Armee nach Idlib geschickt, um die mit Ankara verbündeten Rebellen in deren letzter Bastion vor dem Vormarsch der syrischen Armee zu schützen und eine neue Fluchtwelle von rund einer Million Menschen zu verhindern. Zugleich will Erdogan˘ mit dem Einsatz ein Mitspracherecht der Türkei bei Entscheidungen über Syriens Zukunft durchsetzen.
Erdogan˘ hat Syriens Armee ein Ultimatum gesetzt: Bis Samstag sollen sich die Regimeverbände zurückziehen, sonst werde die türkische Armee nachhelfen. Da Moskau Assad unterstützt, drohen damit auch Auseinandersetzungen zwischen dem Nato-Land Türkei und Russlands Luftwaffe. Offenbar hoffte Erdogan˘ darauf, dass Moskau und Assad im letzten Moment nachgeben.
Der Tod der 33 Soldaten wirft Erdogans˘ Pläne über den Haufen. Russland hat in Idlib die Lufthoheit. Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte am Freitag, die bei dem Luftangriff getroffenen Türken seien zusammen mit „Terroristen“im Einsatz gewesen: So bezeichnen Russland und Syrien Türkei-treue Rebellen. Laut offiziellen türkischen Angaben starben die 33 Soldaten durch syrische Flugzeuge. Doch einige Experten nehmen an, dass die russische Luftwaffe die türkischen Soldaten tötete.
Die Eskalation hängt eng mit der drastischen Verschlechterung der türkisch-russischen Beziehungen zusammen. Über Jahre kooperierten Ankara und Moskau in Syrien, obwohl sie auf verschiedenen Seiten des Konflikts stehen. Doch in Idlib können sie ihre Interessengegensätze nicht mehr ausblenden. Der Kreml will den Krieg mit einem Erfolg Assads in Idlib beenden. Erdogan˘ telefonierte am Freitag mit Kreml-Chef Wladimir Putin, den er bald auch treffen will. Doch das wird kaum etwas an den grundsätzlichen Differenzen ändern.
Russland entsendet zwei Kriegsschiffe
Russland wolle die Türkei aus Syrien drängen, schrieb Burhanettin Duran, ein außenpolitischer Berater Erdogans,˘ in der Zeitung „Daily Sabah“. Moskau verlegte zwei weitere Kriegsschiffe vor Syriens Küste. In ihrer Not spielt die Türkei nun die Flüchtlingskarte und will so die Hilfe ihrer westlichen Partner einfordern. Ob das gelingt, ist fraglich.