Leitartikel. Der schwarze Schwan und seine Crashpropheten
Noch ist an den Börsen nicht allzu viel passiert, aber die drohende CoronaStagflation wird den Aktienkursen wohl noch beträchtlich zusetzen.
Am Ende der schlimmsten Börsenwoche seit der großen Finanzkrise haben die Crashpropheten Hochsaison: Mit dem Coronavirus sei der gefürchtete „schwarze Schwan“aufgetaucht, heißt es. Also ein nicht vorhersehbares singuläres Ereignis, das pandemisch um sich greift und den Börsen ebenso wie der Weltwirtschaft den größten Crash aller Zeiten bescheren wird. Zum Fürchten!
Panik ist im Moment zwar en vogue, aber in dem Fall ist es wirklich angebracht, einmal tief durchzuatmen und die Dinge relaxed zu betrachten. Was wir jetzt sehen, ist Nervosität, aber noch lang nicht die große Katastrophe. Die Kurse sind in dieser Woche um rund ein Zehntel gefallen – und das hätten sie in den heißgelaufenen Märkten in nächster Zeit auch ganz ohne Virus getan. Wenn auch nicht in diesem Tempo.
Vor allem aber: Es gibt kaum Verlierer. Wer nicht erst in den vergangenen Wochen eingestiegen ist, der sitzt jetzt selbst dann meist noch auf satten Aktienkursgewinnen, wenn er nicht – was vernünftig gewesen wäre – schon zu Wochenbeginn seine Gewinne realisiert oder zumindest abgesichert hätte. Der Kurssturz hat Anleger bisher also nicht um Haus und Hof gebracht, sondern in den meisten Fällen lediglich den theoretisch aufgelaufenen Gewinn geschmälert. Panikmache mit den an der Börse angeblich ausradierten Fantastilliarden ist so gesehen ziemlich daneben.
Übertriebener Optimismus freilich auch. Denn in China ist mehr als ein Sack Reis umgefallen. Selbst wenn aus der Corona-Epidemie keine globale Pandemie wird (wonach es derzeit freilich nicht aussieht), ist großer wirtschaftlicher Schaden schon angerichtet. Spätestens in zwei, drei Wochen, wenn die erwarteten Containerschiffe aus Fernost immer öfter ausbleiben werden, wird der Sand im wirtschaftlichen Getriebe Europas und der USA hörbar zu knirschen beginnen. Wir reden bei China ja vom global mit Abstand wichtigsten Vorlieferanten.
Bekommen die Mediziner die Corona-Geschichte zeitnah unter Kontrolle (wonach es derzeit allerdings ebenfalls nicht aussieht), dann werden wir in den Industriestaaten ein paar rezessive Quartale erleben. Dauert die Krise länger, dann wird die eingeschränkte Produktion zu Verknappungserscheinungen in verschiedenen Sektoren führen.
Und dann wird es richtig haarig: Verknappung erzeugt Preisdruck. Bei stagnierender oder sinkender Wirtschaftsleistung wohlgemerkt. Das ist die gefürchtete Stagflation. Die Notenbanken können darauf nicht lehrbuchgemäß mit Zinserhöhungen reagieren, weil sie damit die Wirtschaft (und nicht wenige Staaten dazu) wegen des aktuell hohen Schuldenniveaus auf der Stelle abmurksen würden. Da werden wir dann Zeugen von erstaunlichen Experimenten mit ungewissem Ausgang werden. Hongkong beispielsweise beginnt schon jetzt mit Helikoptergeld. Dort wird jeder Einwohner demnächst 1200 Dollar mit lieben Grüßen von der Regierung auf dem Konto finden.
Übrigens: Das Stagflationsszenario ist nicht fiktiv. In China beispielsweise ist die Nachfrage im Februar drastisch eingebrochen, bei Autoverkäufen etwa um rund 90 Prozent. Trotzdem hat die Inflation deutlich angezogen.
Wir steuern also global auf sehr unsichere und unruhige Zeiten zu. Das heißt natürlich auch nichts Gutes für die angeschlagenen Finanzmärkte. Das Börsengewitter, das wir diese Woche gesehen haben, wird sich also wohl für längere Zeit nicht verziehen. Niemand hat eine funktionierende Glaskugel, aber im Fall einer echten Stagflation klingen Expertenprognosen über weitere Kursrückgänge von 20, 30 oder 40 Prozent nicht so an den Haaren herbeigezogen.
Wer also bisher nicht reagiert hat, sollte sich langsam etwas zu überlegen beginnen. Aussitzstrategien sind angesichts solcher Aussichten jedenfalls keine brillante Idee. Dann schon eher „take the money and run“. Denn die alte Börsenweisheit, dass vom rechtzeitigen Realisieren von Gewinnen noch keiner arm geworden ist, gilt natürlich auch in solch ungewöhnlichen Zeiten. Oder besser, gerade dann.