Geschichte. Wie Epidemien soziale Strukturen veränderten
Epidemie. Krankheitserreger können nicht nur den Körper eines Menschen befallen und schwächen, sondern auch die sozialen Strukturen einer ganzen Gesellschaft verändern.
Am 13. August 1892 klagte ein Arbeiter im Hamburger Hafen über Brechdurchfälle. Zwei Tage später war er tot. Fünf weitere Personen zeigten an diesem Tag ähnliche Symptome. Eine Cholerawelle schwappte durch die Stadt. Als die Zahl der Todesfälle rasant stieg, verließen die Hamburger fluchtartig ihre Stadt und verbreiteten den tödlichen Erreger. Die Zurückgebliebenen tranken wegen der Hitze weiter ungefiltertes Wasser aus der Elbe. „Ich vergesse, dass ich in Europa bin“, sagte der Bakteriologe Robert Koch, der sofort nach Hamburg gereist war. Er gab den ungesunden Wohnungen, Brutstätten für jede denkbare Ansteckung, die Schuld und erkannte das Trinkwasser als Infektionsquelle.
Auch die berühmteste Schauspielerin ihrer Zeit, Sarah Bernhardt, äußerte sich in einem Interview zur Hamburger Epidemie: „Ich strafe die Cholera mit Verachtung, denn ich bin überzeugt, dass eine derartige Krankheit gar nicht existiert. Es mag sein, dass es einen gewissen atmosphärischen Zustand gibt, der bei ungesunden und schmutzigen Leuten zum Tode führt. Das ist alles. Der Cholerabazillus erscheint mir als das absurdeste Zeug der Einbildung. Ich bin bereit, nach irgendeiner von der Seuche ergriffenen Stadt zu gehen und dort zum Besten der , sogenannten‘ Cholerakranken zu spielen.“
Sie verleugnete die Seuche also, obwohl Mittel- und Westeuropa seit 1831 unter epidemischen Cholerawellen gelitten hatten, 1892 war die vierte und letzte. Symptomatisch an Bernhardts Beispiel freilich: Ist ein Ereignis unheimlich und bedrohlich, gibt es Menschen, die die Gefahr leugnen, um sich vor Angstzuständen zu schützen.
Entsittlichung und Alkohol
Interessant auch der moralische Unterton in Sarah Bernhardts Interview. Er findet sich in unzähligen medizinischen Traktaten des 19. Jahrhunderts: Entsittlichung, Ausschweifung und Alkoholismus seien schuld an der Armut und in deren Folge an der Anfälligkeit für Krankheiten. Das bürgerliche Vorurteil: Eigentlich sind die Armen selbst schuld an ihrer Misere, eigentlich müssten sie im Seuchenfall als Herd des Unglücks ausgegrenzt werden. Eine Seuche ebnete also nicht, wie oft behauptet, die soziale Ungleichheit ein, sondern verstärkte sie. Im günstigeren Fall bemühten sich die Behörden darum, mit einem Erziehungsprogramm die bürgerlichen Standards von Ordnung, Sauberkeit und Moral in die Unterschichten hineinzutragen. Schon damals also: Politik mit Gesundheitsargumenten.
Doch war 1892 der bakteriologische Beweis für die Kontagiösität der Cholera durch Robert Koch nicht längst bekannt? Er war bekannt, aber nicht allgemein akzeptiert. Die übrigen Forscher wollten Koch nicht so einfach das Feld überlassen, sie fürchteten um ihre Forschungsgelder und ihre Reputation und verzögerten durch das Festhalten an veralteten Theorien den Erkenntnisfortschritt. So hielt der Hygieneforscher Max von Pettenkofer an seiner Miasma-Theorie von den Ausdünstungen faulender Materie fest. Wenn Sarah Bernhardt also von einem „atmosphärischen Zustand“spricht, deklariert sie sich als Anhängerin dieser Lehre.
Der Theorienstreit spitzte sich nach der Epidemie in Hamburg 1892 zu. Pettenkofer, die bis dahin anerkannte Autorität in Fragen der Hygienepolitik, unterlag. Der Sozialhistoriker Reinhard Spree fühlt sich erinnert an den lang anhaltenden Streit zwischen Luc Montagnier vom Pasteur-Institut in Paris und Robert Gallo vom National Health Institute der USA. Es ging um die Entdeckung des Aids-Virus, und es ging natürlich auch um Patentschutz, Ruhm und Ehre.
In vormodernen Zeiten galten Epidemien noch als reine Naturkatastrophen, gottgesandt und wissenschaftlich prinzipiell unbegreiflich. Im 19. und 20. Jahrhundert kam die Vorstellung, dass das Schicksalhafte daran rationalisiert und bezwungen werden könne. Man sprach von der „Ausrottung“der Seuchen. Die Rückseite dieses Optimismus waren extreme Ängste, wenn eine neue Epidemie auftrat. Die moderne massenmediale Kommunikation schaffte ein Klima, in dem Panik Verbreitung finden konnte.
Seuchengeschichte war daher nie nur Wissenschaftsgeschichte, die Forschung hat den Umgang mit Seuchen auch „eine Art analytische Sonde“, „Seismograf des Sozialen“genannt (Malte Thießen in „Das infizierte Europa“). Das Auftreten neuer Krankheitswellen war und ist imstande, unseren Fortschrittsoptimismus gehörig zu dämpfen und die Grenzen moderner Machbarkeitsutopien aufzuzeigen. Kaum ist man sich gewiss, die Gesundheitsverhältnisse rational steuern zu können, wird dies durch ein unbekanntes Virus konterkariert.
Aus dieser gesellschaftlichen Verunsicherung heraus wurden Seuchen ein Bezugspunkt für kollektive Ängste und ein weites Symbol- und Metaphernfeld. Ihre Dämonisierung als „Würgeengel“und „Gespenster“geht paradoxerweise auch auf ihren größten Bekämpfer, Robert Koch, zurück, der 1888 über die „Kriegsseuchen“schrieb: „Schon im Frieden schleichen sie umher und zehren am Mark der Armee, aber wenn die Kriegsfackel lodert, dann kriechen sie hervor aus ihren Schlupfwinkeln, erheben das Haupt zu gewaltiger Höhe und vernichten alles, was ihnen im Wege steht.“
Solche Formulierungen wurden von den Massenmedien gierig aufgegriffen. In der Kolonialzeit des späten 19. Jahrhunderts war dann mit rassistischen Konnotationen von „Seuchenherden“die Rede. Man sprach von der Cholera als „asiatische Hydra“, als „von Osten mit Riesenschritten nahende Seuche“, die als „gefräßiges Ungeheuer“unaufhaltsam ganz Europa durchziehen würde. Im 20. Jahrhundert gelang dann eine gewisse Entmoralisierung und Versachlichung, dennoch wurden immer wieder verschwörungstheoretische Erklärungen bemüht.
Medizin und Propagandaschlachten
Mit der Etablierung von öffentlichen Gesundheitseinrichtungen wuchs die Fürsorgepflicht des Staates. Erfolg oder Misserfolg bei der Seuchenbekämpfung wurden auch zum „Maßstab für nationale Leistungsfähigkeit“, zum „Lackmustest für die Vorsorgeund Krisenlösungskompetenz des Staates“(Malte Thießen). Ein Staat galt dann als leistungsfähig, wenn er das kollektive Sicherheitsbedürfnis seiner Bevölkerung erfüllte. Er geriet unter Legitimationsdruck, etwa in der Zeit des Kalten Krieges, als mit Seuchen richtiggehende Propagandaschlachten geschlagen wurden. „Die Pockenkrankheiten in der Bundesrepublik gelten den Kommunisten als Produkte des kapitalistischen Systems, die Ostberliner Ruhrepidemie ist für einige unserer Publizisten eine direkte Konsequenz der Mauer“(„Die Zeit“, 13. 4. 1962). So konnte die Ausrottung einiger Seuchen als „Cold War Victory“gefeiert werden. Durch die Gründung von internationalen Organisationen wie der WHO wird die Seuchenbekämpfung freilich immer mehr von internationalen Akteuren übernommen.
Im Umgang mit Epidemien spiegeln sich soziale Spannungsverhältnisse in unserer Gesellschaft wider. Es geht ja nicht nur um Kranke und Ärzte, sondern es geht auch um Obrigkeiten, die den gesellschaftlichen Umgang mit der Epidemie mitbestimmen. Informieren sie die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß? Sind die Bekämpfungsstrategien und die damit einhergehenden Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten berechtigt? Die Austarierung von Individual- und Allgemeinwohl stellt Staat und Staatsbürger auf die Probe. In den 1980er-Jahren wurde eine Zwangsisolierung von Aids-Erkrankten in Deutschland ernsthaft diskutiert. Plötzlich war die alte Vorstellung von der Krankheit als einer Strafe für Sünden wieder da.