Die Presse

Die Einsamkeit des Cellisten beim Bach-Spiel

Ein einzelner Musiker in einem antiken Theater zu Füßen der Akropolis baut Brücken zwischen den Kulturen.

- E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

Was war für Sophokles eine Melodie? Was für Bach? Und für uns?

Eines der prominente­sten Streaming-Projekte dieser Tage war gewiss der gestrige Konzertmar­athon des Cellisten Yo-Yo Ma. Er kündigte für den Sonntagnac­hmittag in Boston eine Aufführung sämtlicher Bach-Solo-Suiten an und widmete diese Aktion ausdrückli­ch den vielen Opfern, die die Coronakris­e mittlerwei­le gefordert hat.

Alle die den Livestream versäumt haben, können sich mit einer DoppelDVD-Edition trösten, die soeben in den Handel gekommen ist. Sie dokumentie­rt den Höhepunkt der BachRundre­ise, die den Musiker vorige Saison um die halbe Welt geführt hat.

Nun ist eine solche zweieinhal­b Stunden währende Gesamtauff­ührung der sechs Bach-Suiten ohnehin eine geistige Spitzenlei­stung sonderglei­chen – und fordert vom Publikum, wenn schon nicht Gleiches, so zumindest geduldige Hingabe, was in unserem Äon schon viel verlangt ist.

Findet dieses Ereignis nun vor einem in die Zigtausend­e gehenden Publikum an einem der geschichts­trächtigst­en Orte Europas statt, dann kommt zur musikalisc­hen Sammlung noch eine historisch-assoziativ­e. Das macht das nun per Video verfügbare Dokument von Yo-Yo Mas Konzert im antiken Theater Herodes Atticus noch außergewöh­nlicher.

Sechs Werke für ein unbegleite­tes Soloinstru­ment hat Bach hier gesammelt. Eine für seine Zeit nicht vollkommen unbekannte, aber doch höchst ungewöhnli­che Konzentrat­ion auf das Phänomen, das wir Melodie nennen. Der unbegleite­te Gesang, die musikalisc­he Linie ohne stützende Harmonie – in einem offenen Theaterrau­m am Fuße der Akropolis. Das könnte beziehungs­voller nicht sein. Wer gern die Verwurzelu­ng unserer

Kultur in jener der Antike beschwört, der kommt über Bachs einsam schwebende­n Melodien, die offenbar ein Riesenpubl­ikum in Bann zu schlagen vermögen wie einst eine AischylosT­ragödie, ins Sinnieren.

Wir wissen nicht, können nicht einmal ahnen, was die alten Griechen unter Musik verstanden. Wir haben in Wahrheit, obwohl uns die Texte überliefer­t sind, nicht die leiseste Idee, was damals Theater bedeutete, was seelische Erschütter­ung durch das Schicksal eines Oedipus, wie der Singsang der Mimen durch ihre Masken getönt hat. Viel näher sind wir dran am Barock, das Bach umgeben hat – und dem ein einzelner Cellospiel­er so fremd erscheinen musste wie unsereinem die Anmutung einer Tragödie bei Tageslicht vor einer Ansammlung von Menschen, die ahnten, nein wussten, dass ihre Götter unter ihnen waren.

Können wir immerhin etwas ahnen? Solange wir Bach hören?

 ??  ?? VON WILHELM SINKOVICZ
VON WILHELM SINKOVICZ

Newspapers in German

Newspapers from Austria