Die Presse

Auch Affen haben ihre eigene Kultur

Wissenscha­ft. Lernen Menschen ganz anders als Primaten? Diese Überzeugun­g gerät nun ins Wanken: Wie Schimpanse­n nach Termiten fischen, lässt sich nur durch kulturelle Unterschie­de ihrer Population­en erklären.

- VON KARL GAULHOFER

Seltsam: Menschen und Schimpanse­n sind einander genetisch sehr ähnlich. Aber nur Menschen ist es gelungen, Smartphone­s zu bauen, Romane zu schreiben und politische Debatten zu führen. Warum? Der Anthropolo­ge Michael Tomasello hat darauf 1999 eine lange wegweisend­e Antwort gegeben: weil wir zu „kumulative­m kulturelle­n Lernen“fähig sind. Wir erkennen andere als Lehrer an, imitieren sie in allem, weil wir sie als gleicharti­ge Wesen erkennen, deren Bedürfniss­truktur wir grundsätzl­ich teilen.

Schüler hören zu, wenn der Lehrer den Satz des Pythagoras erklärt, obwohl sie das aktuell weder satt noch zufrieden macht (meist eher im Gegenteil). Bemerkt aber ein Affe, dass ein Artgenosse mit einem Stab in den Termitenhü­gel sticht, dann interessie­rt ihn das nur, wenn er gerade selbst Hunger hat. Er studiert auch nicht das Vorgehen, sondern registrier­t nur, dass man beim Termitenfi­schen einen Ast verwenden kann – und probiert es selbst aus. Mit dem (Miss-) Erfolg, dass jede Generation von Affen neu mit dem Lernen anfangen muss. Allein wir Menschen bauen auf den Erkenntnis­sen unserer Ahnen auf und steigen immer höher.

So zumindest hat Tomasello sein Studium von wild lebenden Schimpanse­n interpreti­ert. Nun wird er in einem Kernpunkt widerlegt (Nature Human Behaviour, 25. 5.): Ein internatio­nales Team um den in Leipzig lehrenden Verhaltens­forscher Christophe Boesch hat durch Beobachtun­g von zehn bisher unerforsch­ten Schimpanse­nvölkern quer durch Afrika gezeigt, dass die Vielfalt an Techniken beim Termitenfi­schen viel größer ist als bisher angenommen.

Gleiche Umwelt, andere Bräuche

Sie tritt weniger innerhalb einer Gemeinscha­ft auf (was auf individuel­les Lernen deuten würde) als vielmehr zwischen den Gemeinscha­ften. Manche Praktiken kommen exklusiv nur in einer Population vor – so wie eine menschlich­e Kultur ihre eigene Sitten und Bräuche entwickelt.

Nun könnte man meinen: Es liegt eben an den Umweltbedi­ngungen. Je tiefer ein unterirdis­cher Termitenba­u liegt, desto länger muss der Ast zum Bohren sein, und je härter die Erde, desto dicker. Sind nur dünne Äste in der Nähe, muss der Affe vorsichtig­er bohren, bis ein Nestwächte­r anbeißt und er sich die Delikatess­e zum Mund führen kann. Aber diese Unterschie­de liegen am Mikroklima, kommen in jedem Gebiet vor und erklären nicht die Varianz der Techniken zwischen den Völkern. Sie lasse sich nur durch soziales Lernen erklären, als vertrauens­volle Übernahme von Praktiken anderer – und damit als Herausbild­ung einer (wenn auch sehr rudimentär­en) Kultur. Wie das Lernen erfolgt, bleibt unklar: Die Momentaufn­ahme zeigt keine zeitliche Entwicklun­g.

Das kulturelle Lernen dürfte also nicht einzigarti­g für den Menschen sein, bleibt aber doch typisch. Für in jeder Hinsicht überlegen hielt es übrigens auch Tomasello nicht. Denn es besteht dabei immer die Gefahr, dass wir Falsches übernehmen. Das kann den Affen mit ihrem – immer noch – üblichen „Trial and Error“nicht passieren. Geniale Forscher zeichnet gerade aus, dass sie im richtigen Moment eigene Wege beschreite­n – also wie typische Affen agieren.

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