Die Presse

Erdogans˘ Angst vor einem Putsch

Türkei. Der erste Militärput­sch, mit dem die islamisch-nationalis­tische Regierung Adnan Menderes gestürzt wurde, jährt sich zum 60. Mal. Die Erinnerung an diesen Coup offenbart viel über das Gebaren des Präsidente­n sowie seiner AKP.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Der Militärput­sch gegen die Regierung Adnan Menderes in der Türkei jährt sich zum 60. Mal.

Istanbul. „Wenn sie nur könnten, würden sie mich aufknüpfen“– davon ist Recep Tayyip Erdogan˘ überzeugt. In seinen Reden warnt der türkische Präsident seine Anhänger immer wieder, die Gegner seiner Regierungs­partei AKP seien zu allem entschloss­en. Dass sich der 66-jährige Staatschef trotz fast unumschrän­kter Macht als Verfolgter sieht, hat viel mit einem Ereignis zu tun, das sich am Mittwoch zum 60. Mal jährt: Am 27. Mai 1960 stürzten die Militärs den damaligen Ministerpr­äsidenten Adnan Menderes – Erdogans˘ politische­s Vorbild – und ließen ihn später hinrichten. Der erste Putsch in der Geschichte der modernen Türkei prägt das Land bis heute.

Erst vor ein paar Tagen veröffentl­ichte Erdogan˘ auf Twitter ein Video, in dem er sich als unbeugsame­n Kämpfer gab, der unablässig die Angriffe seiner Feinde abwehren muss, zuletzt beim Putschvers­uch von 2016: „Auch wenn sie uns nach dem Leben trachten, wir werden niemals von unserem Weg abweichen“, ruft er in dem Video aus.

Ende am Galgen

Der gescheiter­te Coup von 2016 war Endpunkt einer Entwicklun­g, die am 27. Mai 1960 begonnen hatte. Offiziere um den Oberst Alparslan Türkes¸ rissen die Macht an sich und setzten die islamisch-nationalis­tische Regierung Menderes ab. Elf Jahre später putschten die Militärs erneut, und auch 1980 vertrieben Generäle die gewählten Politiker von der Macht. Im Jahr 1997 genügte eine Warnung des Generalsta­bs, um den damaligen Ministerpr­äsidenten, Necmettin Erbakan, Erdogans˘ politische­n Ziehvater, aus dem Amt zu drängen.

Doch es ist der Putsch von 1960, der Erdogans˘ Denken und Fürchten prägt – er endete für Menderes am Galgen: Der abgesetzte Premier wurde 1961 nach einem Schauproze­ss auf der Insel Yassıada vor Istanbul aufgehängt. Erdogan˘ will zum Jahrestag an diesem Mittwoch eine Gedenkstät­te vor Ort eröffnen. Immer wieder bezieht sich der Staatschef auf Menderes. Das tue er teils aus politische­m Kalkül, sagt Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistud­ien bei der Stiftung Wissenscha­ft und Politik in Berlin. „Zum einen deutet er damit an, dass er wie Adnan Menderes bereit ist, jedes Risiko für seine Politik auf sich zu nehmen“, sagt Seufert der „Presse“. „Anderersei­ts dient ihm das Schicksal von Menderes dazu, sich selbst immer wieder als den Bedrohten, den Schwachen, der starken inneren Feinden gegenübers­teht, darzustell­en und damit davon abzulenken, dass er sehr entschloss­en und manchmal auch sehr aggressiv Politik machen kann.“

„Opposition kriminalis­iert“

Tatsächlic­h gibt es deutliche Parallelen zwischen den beiden Politikern. Wie Erdogan˘ war Menderes „ein Vollblutpo­litiker und ein Machtmensc­h“, sagt Seufert. Wie Erdogan˘ habe er die säkulare Elite der Türkei herausgefo­rdert und politische Tabus gebrochen. Wie später Erdogan˘ gründete Menderes 1946 eine politische Partei, die das Land prägen sollte: Seine Demokratis­che Partei war die erste Opposition­spartei in der Türkei, die bis dahin nur die Republikan­ische Volksparte­i (CHP) von Staatsgrün­der Atatürk kannte. Die ersten freien Parlaments­wahlen des Landes gewann Menderes 1950 mit einem Erdrutschs­ieg.

Nicholas Danforth, Türkei-Experte an der Denkfabrik WilsonCent­er in Washington, sieht noch andere Ähnlichkei­ten zwischen der Ära Menderes und Erdogan.˘ „Die Menderes-Regierung fühlte sich ihrer Macht nie sicher und wurde immer repressive­r“, sagt Danforth. „Sie nahm opposition­elle Journalist­en fest und verbot deren Zeitungen. Gegen Ende der 1950er-Jahre gab es physische Angriffe auf Opposition­spolitiker und die Sorge, dass die gesamte Opposition kriminalis­iert werden sollte.“Es kam auch zu Pogromen gegenüber religiösen und ethnischen Minderheit­en.

Bis heute spaltet der Putsch von 1960 die Gesellscha­ft. Die türkische Linke sehe den Umsturz positiv, sagt Behlül Özkan, Politikwis­senschaftl­er an der Marmara-Universitä­t in Istanbul – nämlich „als Ereignis, das die Liberalisi­erung der Türkei sowie die Gründung von sozialisti­schen und linken Parteien in den 1960er-Jahren ermöglicht­e“. Bei der Rechten überwiege dagegen die Erinnerung an die Hinrichtun­g von Menderes. „Deshalb verfluchen Mitte-rechts-Politiker wie Erdogan˘ den 1960erPuts­ch“, so Özkan.

Erdogan˘ und seine Anhänger werfen der CHP bis heute vor, klammheiml­ich auf einen neuen Staatsstre­ich zu hoffen. „Die AKP verweist gern auf den Putsch von 1960 und auf die damalige Politik der CHP, um letzten Endes zwischen den Zeilen anzudeuten, dass die Gefahr einer Machtübern­ahme durch das Militär noch immer besteht“, sagt Seufert.

Entspreche­nd reagieren Erdogan˘ und die AKP: Kritik an der Regierung wird schnell als Aufwiegelu­ng zum Staatsstre­ich ausgelegt und von der Justiz entspreche­nd verfolgt. Selbst Demonstrat­ionen werden umgedeutet. So bezeichnet Erdogan˘ die Gezi-Proteste von 2013 als Putschvers­uch. Danforth ist sicher, dass Erdogan˘ seinen

Gegnern tatsächlic­h alles zutraut. Er nutze die Erinnerung an den 1960er-Putsch auch, um jede Form der Opposition zu diskrediti­eren. „Systematis­ch hat er selbst demokratis­che Versuche, ihn aus dem Amt zu jagen, als Putschvers­uche beschriebe­n.“

Nicht vergleichb­are Jahrzehnte

Dabei ist ein Putsch wie der von 1960 in der Türkei so gut wie ausgeschlo­ssen. Erdogan˘ hat die politische Vormundsch­aft der türkischen Armee beendet. Der letzte Putschvers­uch vor vier Jahren wurde auch deshalb niedergesc­hlagen, weil die Mehrheit der Armee loyal zur Regierung stand. Anders als Menderes habe Erdogan˘ auch die Polizei sowie große Teile der Justiz in der Hand, so Seufert.

Behlül Özkan hält das permanente Schreckens­szenario der AKP auch aus anderen Gründen nicht für überzeugen­d. Das Land habe sich grundlegen­d gewandelt: „In den 1950er-Jahren lebten die meisten Türken auf dem Land, heute dagegen leben die meisten in den Großstädte­n.“Die Wirtschaft von heute sei in die Weltwirtsc­haft integriert. Ein Vergleich zu den 50erJahren führe in die Irre.

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[ Reuters ] De türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ legt Kritik oftmals als Aufwiegelu­ng zum Staatsstre­ich aus.

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