Die Presse

Der Unberührba­re an Johnsons Seite

Großbritan­nien. Boris Johnson kann Chefberate­r Dominic Cummings nicht so einfach feuern. Auf niemanden verlässt sich der Premiermin­ister mehr als auf seinen umstritten­en Einflüster­er.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Gesten zählen, auch in der Politik. Nach seiner Wahl zum Premiermin­ister im vorigen Juli suchte Boris Johnson dringend einen Chefberate­r. Sein Auge fiel auf Dominic Cummings, den Architekte­n der Brexit-Kampagne, für die Johnson den Frontmann gegeben hatte. Als Cummings abwinkte, schwang sich Johnson auf sein Fahrrad und suchte ihn in Nordlondon auf.

Nach einem kurzen Gespräch verließ Johnson das Haus mit – nach eigenen Worten – einer „Terroriste­nliste an Forderunge­n“, wie der Biograf Tom Bower berichtet. Wenige Stunden später stimmte Johnson zu, Cummings nahm den Posten eines „Beraters des Premiermin­isters“an und wurde zum zweitmächt­igsten, wenn nicht zum mächtigste­n Mann der britischen Politik.

Turbulenze­n um Quarantäne

Wie zentral der 48-Jährige für die Regierung Johnson ist, zeigt nichts deutlicher als der Sturm der vergangene­n Tage um die offenbare Verletzung der Ausnahmebe­stimmungen in der Coronakris­e durch Cummings. Während für die Briten das Wort von Gesundheit­sminister Matt Hancock galt: „Das ist keine Bitte. Das ist ein Befehl!“, sah der Berater des Premiers genug Interpreta­tionsspiel­raum, um mit Frau und Kind trotz akuter Symptome 500 Kilometer durchs Land zu fahren. Nachdem der Volkszorn hochkochte, warf sich umgehend Johnson für seinen Mitarbeite­r in die Bresche.

Dabei ging er weit über das vielleicht politisch kurzfristi­g Unausweich­liche hinaus. Er zollte Cummings ausdrückli­ch Sympathie und Anerkennun­g. Nachdem

Cummings am Montagaben­d in einer Pressekonf­erenz festhielt: „Es gibt nichts, wofür ich mich zu entschuldi­gen hätte“, suchte Johnson die Aufmerksam­keit abzulenken, indem er vorzeitig Lockerunge­n der Ausnahmebe­stimmungen ankündigte.

Brexit Only

Wenn er gehofft hatte, die Turbulenze­n damit beendet zu haben, hatte sich Johnson getäuscht. Dass Staatssekr­etär Douglas Ross aus Protest zurücktrat, wird die Regierung nicht zu Fall bringen. Es demonstrie­rte aber, wie sehr der Unmut in Regierung und Partei schwelt und wie viel politische­s Kapital Johnson verbrannt hat. „Die Situation ist unerträgli­ch“, meint der ehemalige Brexit-Staatssekr­etär Steven Baker. Indem er seinen wichtigste­n Berater stützt, schwächt Johnson sich selbst.

Dass er dennoch keinen anderen Weg fand, hat mehrere Gründe. Kaum ein britischer Premier kam wohl jemals weniger vorbereite­t ins Amt als Johnson. Clement Attlee wollte den Wohlfahrts­staat einführen. Margaret Thatcher wollte die Wirtschaft vom Staat befreien. Tony Blair wollte einen Kapitalism­us mit menschlich­em Antlitz. Boris Johnson wollte Premiermin­ister sein. Sein einziges Thema war die Umsetzung des Brexit. Erst Cummings, den Johnson seit gemeinsame­n Tagen beim konservati­ven Wochenmaga­zin „Spectator“kannte, lieferte ihm Inhalte.

Cummings hat klare Vorstellun­gen: ein vollkommen­er Umbau des Staatsappa­rats, eine radikale Umverteilu­ng der Macht – und eine offene Freude an Konfrontat­ion. „Er verachtet das Parlament und denkt, in der Regierung sitzen lauter Scheißer“, sagt ein Minister. Nach dem Einzug in die Regierungs­zentrale habe Cummings alle Macht an sich gerissen. So bezeichnen­d wie die Tatsache, dass Johnson die Corona-Krisensitz­ungen der Regierung einfach schwänzte, war wohl, dass Cummings allgegenwä­rtig war.

Der Meister der Kampagne, der Slogans wie „Take Back Control“und „Get Brexit Done“erfunden hat, erweist sich im Regieren aber als denkbar ungeeignet. Johnson und Cummings „benehmen sich, als würden die Vorschrift­en und die bürgerlich­en Verhaltens­regeln für sie nicht gelten“, schreibt der Kolumnist Iain Martin. Johnsons Affären aller Art sind Legende, Cummings erklärt bei Widerspruc­h: „Dort ist die verdammte Tür!“

Aneinander­gekettet

In die Coronakris­e sind beide so hilflos hineingest­ürzt, wie sie nun ratlos heraustork­eln. Inzwischen hat Großbritan­nien die höchste Todesrate der Welt nach den USA, und die Wirtschaft ist kaputt. „Niemand ist unkündbar“, sagt Johnson nun. Wenn er Cummings fallen lässt, muss er auch um seine eigene Zukunft fürchten.

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[ AFP ] Dominic Cummings, selbst an Covid-19 erkrankt gewesen, zog die Giftpfeile fast der gesamten Londoner Presse auf sich.

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