Der Unberührbare an Johnsons Seite
Großbritannien. Boris Johnson kann Chefberater Dominic Cummings nicht so einfach feuern. Auf niemanden verlässt sich der Premierminister mehr als auf seinen umstrittenen Einflüsterer.
London. Gesten zählen, auch in der Politik. Nach seiner Wahl zum Premierminister im vorigen Juli suchte Boris Johnson dringend einen Chefberater. Sein Auge fiel auf Dominic Cummings, den Architekten der Brexit-Kampagne, für die Johnson den Frontmann gegeben hatte. Als Cummings abwinkte, schwang sich Johnson auf sein Fahrrad und suchte ihn in Nordlondon auf.
Nach einem kurzen Gespräch verließ Johnson das Haus mit – nach eigenen Worten – einer „Terroristenliste an Forderungen“, wie der Biograf Tom Bower berichtet. Wenige Stunden später stimmte Johnson zu, Cummings nahm den Posten eines „Beraters des Premierministers“an und wurde zum zweitmächtigsten, wenn nicht zum mächtigsten Mann der britischen Politik.
Turbulenzen um Quarantäne
Wie zentral der 48-Jährige für die Regierung Johnson ist, zeigt nichts deutlicher als der Sturm der vergangenen Tage um die offenbare Verletzung der Ausnahmebestimmungen in der Coronakrise durch Cummings. Während für die Briten das Wort von Gesundheitsminister Matt Hancock galt: „Das ist keine Bitte. Das ist ein Befehl!“, sah der Berater des Premiers genug Interpretationsspielraum, um mit Frau und Kind trotz akuter Symptome 500 Kilometer durchs Land zu fahren. Nachdem der Volkszorn hochkochte, warf sich umgehend Johnson für seinen Mitarbeiter in die Bresche.
Dabei ging er weit über das vielleicht politisch kurzfristig Unausweichliche hinaus. Er zollte Cummings ausdrücklich Sympathie und Anerkennung. Nachdem
Cummings am Montagabend in einer Pressekonferenz festhielt: „Es gibt nichts, wofür ich mich zu entschuldigen hätte“, suchte Johnson die Aufmerksamkeit abzulenken, indem er vorzeitig Lockerungen der Ausnahmebestimmungen ankündigte.
Brexit Only
Wenn er gehofft hatte, die Turbulenzen damit beendet zu haben, hatte sich Johnson getäuscht. Dass Staatssekretär Douglas Ross aus Protest zurücktrat, wird die Regierung nicht zu Fall bringen. Es demonstrierte aber, wie sehr der Unmut in Regierung und Partei schwelt und wie viel politisches Kapital Johnson verbrannt hat. „Die Situation ist unerträglich“, meint der ehemalige Brexit-Staatssekretär Steven Baker. Indem er seinen wichtigsten Berater stützt, schwächt Johnson sich selbst.
Dass er dennoch keinen anderen Weg fand, hat mehrere Gründe. Kaum ein britischer Premier kam wohl jemals weniger vorbereitet ins Amt als Johnson. Clement Attlee wollte den Wohlfahrtsstaat einführen. Margaret Thatcher wollte die Wirtschaft vom Staat befreien. Tony Blair wollte einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Boris Johnson wollte Premierminister sein. Sein einziges Thema war die Umsetzung des Brexit. Erst Cummings, den Johnson seit gemeinsamen Tagen beim konservativen Wochenmagazin „Spectator“kannte, lieferte ihm Inhalte.
Cummings hat klare Vorstellungen: ein vollkommener Umbau des Staatsapparats, eine radikale Umverteilung der Macht – und eine offene Freude an Konfrontation. „Er verachtet das Parlament und denkt, in der Regierung sitzen lauter Scheißer“, sagt ein Minister. Nach dem Einzug in die Regierungszentrale habe Cummings alle Macht an sich gerissen. So bezeichnend wie die Tatsache, dass Johnson die Corona-Krisensitzungen der Regierung einfach schwänzte, war wohl, dass Cummings allgegenwärtig war.
Der Meister der Kampagne, der Slogans wie „Take Back Control“und „Get Brexit Done“erfunden hat, erweist sich im Regieren aber als denkbar ungeeignet. Johnson und Cummings „benehmen sich, als würden die Vorschriften und die bürgerlichen Verhaltensregeln für sie nicht gelten“, schreibt der Kolumnist Iain Martin. Johnsons Affären aller Art sind Legende, Cummings erklärt bei Widerspruch: „Dort ist die verdammte Tür!“
Aneinandergekettet
In die Coronakrise sind beide so hilflos hineingestürzt, wie sie nun ratlos heraustorkeln. Inzwischen hat Großbritannien die höchste Todesrate der Welt nach den USA, und die Wirtschaft ist kaputt. „Niemand ist unkündbar“, sagt Johnson nun. Wenn er Cummings fallen lässt, muss er auch um seine eigene Zukunft fürchten.