Lehrer sollen Gewalt aufspuren
Kinderschutz. In der Coronazeit hat die Gewalt in Familien zugenommen. Sie ist aber verborgen geblieben. Nun komme Pädagogen eine wichtige Rolle zu, sagt Psychologin Hedwig Wölfl.
Wien.
„Wir können es nicht in Zahlen belegen“, schickt Hedwig Wölfl, die Leiterin des Kinderschutzzentrums „Die Möwe“, voraus. Für sie und ihre Kollegen besteht dennoch kein Zweifel: „In der Coronazeit hat es massive Übergriffe und Gewalt an Kindern gegeben.“Die seien aber häufiger als sonst verborgen geblieben.
Als die Schulen zugesperrt und die Ausgangsbeschränkungen verhängt wurden, haben auch die Kinder- und Jugendhilfe sowie die Kinderschutzzentren eine Veränderung bemerkt. Es sind kaum mehr Meldungen eingegangen. Vieles ist in den eigenen vier Wänden geblieben. In der „Möwe“kümmerte man sich um die Familien, mit denen man bereits zuvor in Kontakt stand, doch Neuanfragen gab es nur noch vereinzelt. Die Hilferufe „sind stark zurückgegangen“.
Die Hilfsbedürftigkeit aber nicht. Da sind sich die Schutzeinrichtungen sicher. Die Situation sei in vielen Familien in der Coronazeit besonders angespannt gewesen. Der Verlust des Arbeitsplatzes, die plötzlichen Einkommenseinbußen oder das Homeoffice gepaart mit dem Homeschooling der Kinder sei generell „ein grenzwertiger Stressfaktor“. Besonders treffe das auf Familien zu, in denen es schon davor Probleme gab, und auf Personen mit Vorbelastungen. „Hier nehmen Ängste, Überforderung und oft auch Gewalt drastisch zu“, sagt Wölfl.
Bezugspersonen fehlten
Manche Hilferufe haben „Die Möwe“zuletzt doch erreicht. Darunter war der einer Mutter eines Babys, in der plötzlich die dramatischen Gewalterinnerungen der eigenen Kindheit hochkamen, oder der einer Flüchtlingsfamilie, deren Ängste durch die Isolation auf engem Raum „extrem getriggert“wurden, also wieder hochkamen. Sie haben sich Hilfe gesucht.
Doch viele hatten Angst davor. Immerhin hätte auch jederzeit jemand mithören können. „Was soll ein Fünfjähriger tun, wenn sich die Eltern anschreien, an den Haaren reißen und prügeln?“In der Isolation fehlten Kindern oft die wichtigen Bezugspersonen außerhalb der engsten Familie.
Das ändert sich nun wieder. Die Kindergärten haben sich bereits gefüllt. Die Schulen sind seit vergangener Woche wieder offen. „Seither sind die Anfragen ganz stark gestiegen“, erzählt Wölfl. Man müsse davon ausgehen, dass das die Fälle sind, die nun lange im Verborgenen blieben. Denn viele Kinder hätten „still gehalten“und seien in den „sozialen Überlebensmodus geflüchtet“. Sie haben sich mit der Situation arrangiert. Es gab ohnehin keinen Ausweg.
Der biete sich nun wieder. „Jetzt brauchen die Kinder Vertrauenspersonen, die ihnen zuhören, die Signale richtig einordnen können und ihnen helfen“, sagt Wölfl. Den Pädagoginnen und Pädagogen würde dabei nun eine „ganz, ganz wesentliche Rolle“zukommen. Sie sind oft Bezugspersonen. Und anders als Tanten oder Nachbarn sind sie auch pädagogisch ausgebildet.
Sorgenpuppe und Briefkasten
Die Kinderschutzorganisation „Die Möwe“hat deshalb einen Leitfaden für Pädagogen erarbeitet (siehe Infokasten). Sie sollen das Vertrauen der Kinder gewinnen, mit ihnen über die Erfahrungen in der Coronazeit sprechen und etwaigen Verdachtsfällen nachgehen. Dafür sind im Leitfaden viele praktische Tipps enthalten – vom Bauen eines Klassenbriefkastens über das Basteln eines Sorgenpüppchens bis hin zu Redekreisen.
Über Fragen wie, „Wie war es, mit so wenig Menschen persönlichen Kontakt zu haben?“, könne man in der Klasse reden. Auch zu Einzelgesprächen wird geraten. Bei Verdachtsfällen sollte man sich mit Kollegen oder Schulpsychologen austauschen. Bei massiver Gewalt oder sexuellen Übergriffen gilt es,
Experten hinzuziehen und eine Meldung an die Kinder- und Jugendhilfe zu machen.
Ein sogenanntes „Sorgenbarometer“soll bei der Einschätzung der Situation helfen. Immerhin dürfe man die Kinder auch nicht zu schnell verschrecken. „Wir sprechen hier von einem Muschel-Effekt. Denn dann beginnen sich die Kinder zurückzuziehen“, sagt Wölfl. Denn eines dürfe man nicht vergessen: Bei den Tätern würde es sich in den meisten Fällen zugleich auch um wichtige Bezugspersonen der Kinder handeln.