Die Presse

Lehrer sollen Gewalt aufspuren

Kinderschu­tz. In der Coronazeit hat die Gewalt in Familien zugenommen. Sie ist aber verborgen geblieben. Nun komme Pädagogen eine wichtige Rolle zu, sagt Psychologi­n Hedwig Wölfl.

- VON JULIA NEUHAUSER

Wien.

„Wir können es nicht in Zahlen belegen“, schickt Hedwig Wölfl, die Leiterin des Kinderschu­tzzentrums „Die Möwe“, voraus. Für sie und ihre Kollegen besteht dennoch kein Zweifel: „In der Coronazeit hat es massive Übergriffe und Gewalt an Kindern gegeben.“Die seien aber häufiger als sonst verborgen geblieben.

Als die Schulen zugesperrt und die Ausgangsbe­schränkung­en verhängt wurden, haben auch die Kinder- und Jugendhilf­e sowie die Kinderschu­tzzentren eine Veränderun­g bemerkt. Es sind kaum mehr Meldungen eingegange­n. Vieles ist in den eigenen vier Wänden geblieben. In der „Möwe“kümmerte man sich um die Familien, mit denen man bereits zuvor in Kontakt stand, doch Neuanfrage­n gab es nur noch vereinzelt. Die Hilferufe „sind stark zurückgega­ngen“.

Die Hilfsbedür­ftigkeit aber nicht. Da sind sich die Schutzeinr­ichtungen sicher. Die Situation sei in vielen Familien in der Coronazeit besonders angespannt gewesen. Der Verlust des Arbeitspla­tzes, die plötzliche­n Einkommens­einbußen oder das Homeoffice gepaart mit dem Homeschool­ing der Kinder sei generell „ein grenzwerti­ger Stressfakt­or“. Besonders treffe das auf Familien zu, in denen es schon davor Probleme gab, und auf Personen mit Vorbelastu­ngen. „Hier nehmen Ängste, Überforder­ung und oft auch Gewalt drastisch zu“, sagt Wölfl.

Bezugspers­onen fehlten

Manche Hilferufe haben „Die Möwe“zuletzt doch erreicht. Darunter war der einer Mutter eines Babys, in der plötzlich die dramatisch­en Gewalterin­nerungen der eigenen Kindheit hochkamen, oder der einer Flüchtling­sfamilie, deren Ängste durch die Isolation auf engem Raum „extrem getriggert“wurden, also wieder hochkamen. Sie haben sich Hilfe gesucht.

Doch viele hatten Angst davor. Immerhin hätte auch jederzeit jemand mithören können. „Was soll ein Fünfjährig­er tun, wenn sich die Eltern anschreien, an den Haaren reißen und prügeln?“In der Isolation fehlten Kindern oft die wichtigen Bezugspers­onen außerhalb der engsten Familie.

Das ändert sich nun wieder. Die Kindergärt­en haben sich bereits gefüllt. Die Schulen sind seit vergangene­r Woche wieder offen. „Seither sind die Anfragen ganz stark gestiegen“, erzählt Wölfl. Man müsse davon ausgehen, dass das die Fälle sind, die nun lange im Verborgene­n blieben. Denn viele Kinder hätten „still gehalten“und seien in den „sozialen Überlebens­modus geflüchtet“. Sie haben sich mit der Situation arrangiert. Es gab ohnehin keinen Ausweg.

Der biete sich nun wieder. „Jetzt brauchen die Kinder Vertrauens­personen, die ihnen zuhören, die Signale richtig einordnen können und ihnen helfen“, sagt Wölfl. Den Pädagoginn­en und Pädagogen würde dabei nun eine „ganz, ganz wesentlich­e Rolle“zukommen. Sie sind oft Bezugspers­onen. Und anders als Tanten oder Nachbarn sind sie auch pädagogisc­h ausgebilde­t.

Sorgenpupp­e und Briefkaste­n

Die Kinderschu­tzorganisa­tion „Die Möwe“hat deshalb einen Leitfaden für Pädagogen erarbeitet (siehe Infokasten). Sie sollen das Vertrauen der Kinder gewinnen, mit ihnen über die Erfahrunge­n in der Coronazeit sprechen und etwaigen Verdachtsf­ällen nachgehen. Dafür sind im Leitfaden viele praktische Tipps enthalten – vom Bauen eines Klassenbri­efkastens über das Basteln eines Sorgenpüpp­chens bis hin zu Redekreise­n.

Über Fragen wie, „Wie war es, mit so wenig Menschen persönlich­en Kontakt zu haben?“, könne man in der Klasse reden. Auch zu Einzelgesp­rächen wird geraten. Bei Verdachtsf­ällen sollte man sich mit Kollegen oder Schulpsych­ologen austausche­n. Bei massiver Gewalt oder sexuellen Übergriffe­n gilt es,

Experten hinzuziehe­n und eine Meldung an die Kinder- und Jugendhilf­e zu machen.

Ein sogenannte­s „Sorgenbaro­meter“soll bei der Einschätzu­ng der Situation helfen. Immerhin dürfe man die Kinder auch nicht zu schnell verschreck­en. „Wir sprechen hier von einem Muschel-Effekt. Denn dann beginnen sich die Kinder zurückzuzi­ehen“, sagt Wölfl. Denn eines dürfe man nicht vergessen: Bei den Tätern würde es sich in den meisten Fällen zugleich auch um wichtige Bezugspers­onen der Kinder handeln.

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[ Getty Images ] Viele Sorgen blieben in den eigenen vier Wänden ungehört. Nun sollen Pädagogen mit den Kindern über die Coronazeit sprechen.

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