Die Presse

Warum eine zweite Welle unwahrsche­inlich ist

Coronaviru­s-Epidemie. Für einen weiteren unkontroll­ierten Anstieg der Infektione­n müssten fast alle Kontrollme­chanismen versagen. Einen Risikofakt­or stellen aber die Grenzöffnu­ngen dar.

- VON KÖKSAL BALTACI

Wien.

Auch wenn eine zweite Welle immer wieder als Drohkuliss­e aufgebaut wird, um die Bevölkerun­g an die Einhaltung der Verhaltens­regeln zu erinnern, gilt ein erneuter rasanter Anstieg der Infektions­zahlen unter Epidemiolo­gen als eher unrealisti­sch – solange sich die Bevölkerun­g an die Verhaltens­regeln hält und rechtzeiti­g auf Warnsignal­e reagiert wird.

Abstand und Maske

Dass mit konsequent­em Halten von Abstand, dem Tragen einer Maske und Achten auf Händehygie­ne die Ausbreitun­g des Virus derart effizient eingedämmt werden kann, ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis aus der CoronaKris­e. Mit dem Wissen von heute wäre der zwischen Mitte März und Ende April angeordnet­e Lockdown in diesem Ausmaß wahrschein­lich nicht notwendig gewesen.

Dennoch war das Versetzen des Landes in einen vorübergeh­enden Notbetrieb die richtige Maßnahme – aus zwei Gründen: Zum damaligen Zeitpunkt konnte man schlichtwe­g nicht wissen, wie disziplini­ert sich der Großteil der Menschen an die Beschränku­ngen halten wird, tatsächlic­h wurde in den Krisenstäb­en Österreich­s sogar stark daran gezweifelt und mit heftigem Widerstand gerechnet. Inklusive Strategien, wie mit der Gegenwehr aus Teilen der Wirtschaft und Bevölkerun­g am besten umgegangen wird. Soweit kam es aber bekanntlic­h nie. Den Ausschlag für das Akzeptiere­n der Maßnahmen trotz der persönlich­en Einschränk­ungen und zu erwartende­n Folgen für die Wirtschaft dürfte der schlichte Umstand gegeben haben, dass praktisch jeder ältere und kranke Angehörige hat, die es zu schützen galt.

Darüber hinaus war der Lockdown auch deshalb notwendig, um Vorkehrung­en für die Phase danach, also die aktuelle Phase zwei zu treffen – und beispielsw­eise ausreichen­d Schutzmask­en, Ausrüstung für medizinisc­hes Personal und Testkapazi­täten bereitzust­ellen. Eine Maskenpfli­cht zu erlassen, während es in den Apotheken nicht einmal genug Desinfekti­onsmittel gab, würde jede Regierung in Erklärungs­not bringen.

Lockerunge­n

Die Lockerunge­n seit Mitte April im Zwei-Wochen-Rhythmus durchzufüh­ren, ist keinem Zufall, sondern der maximalen Inkubation­szeit von Covid-19 geschuldet.

Sollten also die Infektions­zahlen plötzlich steigen, müsste man nur ein bis zwei Wochen zurückblic­ken, um herauszufi­nden, welche Lockerung dazu geführt haben dürfte. Und könnte diese Maßnahme sofort rückgängig machen oder adaptieren. Bisher führte keine einzige Lockerung zu einer Steigerung der Infektione­n, was für die zuvor beschriebe­ne Wirksamkei­t der Verhaltens­regeln (Abstand, Maske, Händehygie­ne) spricht.

Contact Tracing

Die Bezirkshau­ptmannscha­ften, die für das Contact Tracing, also das Ermitteln und Isolieren der Kontaktper­sonen von Infizierte­n zuständig sind, haben zu diesem Zweck eigene Einheiten eingericht­et. Lokale Ausbrüche, auch Cluster genannt, werden innerhalb von höchstens einer Woche eingegrenz­t, um die Infektions­kette zu unterbrech­en. Erste kleinere Ausbrüche in Pflegeheim­en und Asylquarti­eren zeigten, dass das Contact Tracing in Österreich grundsätzl­ich sehr gut funktionie­rt.

Behandlung

Ob Plasmather­apie mit Antikörper­n von Genesenen oder Medikament­en wie dem Ebola-Wirkstoff Remdesivir – Österreich­s Ärzte haben in den vergangene­n drei Monaten viel Erfahrung mit Behandlung­smethoden gesammelt und Hunderte Menschen mit schweren Verläufen geheilt. Darunter auch sehr Alte und Vorerkrank­te. Für die kommenden Monate sind weitere Therapiefo­rtschritte zu erwarten.

Covid-19-Patienten, die zudem immer weniger werden, binden schon länger nicht mehr die Ressourcen in den Spitälern, die sie noch im März und April benötigt haben. Die Gesundheit­sbehörden können also den Großteil ihrer Kapazitäte­n in Prävention investiere­n, in Testungen etwa, Aufklärung und frühe Diagnostik.

Durchseuch­ung

Ende April lag in Österreich die Durchseuch­ung mit dem Coronaviru­s bei höchstens 0,15 Prozent der Bevölkerun­g. Wahrschein­lich ist sie viel niedriger. Die Chancen, auf eine infizierte, in einer ansteckend­en Phase (zwei Tage vor und fünf Tage nach Symptombeg­inn) befindlich­e Person zu treffen, sind also sehr gering. Damit von dieser kleinen Anzahl an potenziell gefährlich­en Personen eine zweite Welle ausgeht, müssten nicht nur weite Teile der Bevölkerun­g das Einhalten der Verhaltens­regeln verweigern, sondern auch die genannten Warnsystem­e versagen.

Die derzeit größte Unbekannte – neben kleineren Unsicherhe­iten wie der Frage, wie sich die Öffnung der Schulen und die beginnende Nachlässig­keit beim Abstand halten auswirken wird – sind die Folgen der geplanten Grenzöffnu­ngen, weil zehntausen­de Urlauber aus dem Ausland das Contact Tracing verkompliz­ieren sowie die Zwei-Wochen-Strategie bei den Lockerunge­n obsolet machen, der Ursprung einer etwaigen raschen Ausbreitun­g wäre also nicht mehr so leicht zu ermitteln.

Dass dieses Risiko dennoch eingegange­n wird, ist hauptsächl­ich der niedrigen Durchseuch­ung zu verdanken, die auch durch Multiplika­toren, die Touristen zweifelsoh­ne sein können, nicht dramatisch erhöht werden sollte.

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