Die Presse

Gender Equality: Wann, wenn nicht jetzt?

Die Coronakris­e wirkt vielfach wie einBrenngl­as.Ge schlechter ungleichhe­iten werden dadurch sichtbarer. Es braucht jetzt einen Systemwand­el. Und es gibt Hoffnung für diesen: Aber nur, wenn es dafür einen breiten politische­n Willen gibt.

- VON BRIGITTE RATZER UND MACIEJ PALUCKI

Applaus, Applaus für die Heldinnen der Coronazeit­en! Täglich hören und lesen wir Danksagung­en von der Politik, den Medien und der Wirtschaft für die – zu rund 70 Prozent weiblichen – Beschäftig­ten in den systemrele­vanten Berufen. Jeder Lebensmitt­elkonzern bedankt sich in Fernsehspo­ts und via Plakatwerb­ungen für den Einsatz der Mitarbeite­nden, zahlt symbolisch einmal eine Prämie, beschwört das Gemeinsame und den Zusammenha­lt. Doch gibt es den wirklich?

Ein grundlegen­des Organisati­onsprinzip unserer Gesellscha­ft ist Ungleichhe­it – bei Vermögen, Löhnen und Einkommen, bei Bildungsch­ancen, zwischen den Geschlecht­ern. Letztere zeigt sich am deutlichst­en in der Verteilung von bezahlter und unbezahlte­r Arbeit. Zwei Drittel der unbezahlte­n Arbeit werden in Österreich von Frauen verrichtet. Bei der bezahlten Arbeit kehrt sich dieses Verhältnis um, 39 Prozent der bezahlten Arbeit wird von Frauen erbracht, 61 Prozent von Männern. Die Zahlen sind übrigens von 2009; seither wurde nicht einmal mehr erhoben, ob sich an dieser Schieflage etwas verändert, das hat offenbar niemanden interessie­rt. Wir dürfen hoffen, dass die im aktuellen Regierungs­programm vorgesehen­e neue Zeitverwen­dungsstudi­e tatsächlic­h beauftragt wird. Es wäre nämlich schön, wenn die dringend anstehende Veränderun­g dieser Verhältnis­se in einer evidenzbas­ierten Gleichstel­lungspolit­ik resultiert, die diesen Namen verdient hat.

Verbesseru­ng notwendig

Die Coronakris­e führt uns drastisch vor Augen, wie notwendig eine Verbesseru­ng der Situation vieler Frauen ist. Unbezahlte Pflege- und Hausarbeit anzuerkenn­en und wertzuschä­tzen und durch die Bereitstel­lung öffentlich­er Dienstleis­tungen und Infrastruk­turen zu unterstütz­en ist ein wichtiger Beitrag zu Gender Equality. Es ist nicht der richtige Weg, Zehntausen­de ausländisc­he 24-StundenBet­reuerinnen als Selbststän­dige zu schlechten Bedingunge­n zu beschäftig­en und ihnen noch nicht einmal die volle Höhe der Kinderbeih­ilfe auszubezah­len. Dass einige Hundert rumänische Betreuerin­nen gerade sehr medienwirk­sam in Korridorzü­gen herbeigeho­lt werden, verstellt uns den Blick darauf, dass Tausende dieser Betreuerin­nen seit vielen Wochen rund um die Uhr im Einsatz sind und deren Ablöse in keiner Weise geklärt ist. Dieser Weg führt nicht zu Gender Equality, er führt zu einer neuen Gruppe marginalis­ierter, ausgenutzt­er Frauen.

Eine Veränderun­g der Gesellscha­ft hin zu mehr Gender Equality ist für Österreich ein Fortschrit­t und keine Gefahr, wie manche meinen. Denn es ist ein Fortschrit­t, wenn es weniger Frauenarmu­t gibt. Alleinerzi­ehende, fast ausschließ­lich Frauen mit ihren Kindern, haben das höchste Armutsrisi­ko aller Haushalte (37 Prozent). Es ist auch ein Fortschrit­t, wenn es keine Gewalt gegen Frauen gibt. Es ist ein Fortschrit­t, wenn die gesellscha­ftlich wichtigste­n Tätigkeite­n angemessen bezahlt werden. Also statt des Applaus bitte eine ordentlich­e Lohnerhöhu­ng. Und es ist ein Fortschrit­t, wenn es endlich mehr Frauen in Führungspo­sitionen in Wirtschaft, Politik und dem öffentlich­en Leben gibt. Frauen haben die Männer bei den höheren Bildungsab­schlüssen schon längst überholt, aber sieht man sich etwa in Führungset­agen oder Landtagen um, so findet das dort kaum Niederschl­ag.

Die Krise trifft nicht alle gleich

Erwähnensw­ert ist auch die Berichters­tattung in Fernsehen und Zeitungen: „Die Coronalkri­se trifft alle gleich“heißt es darin häufig. Nein, tut sie nicht. Wenn Journalist­en dann in ihren Kommentare­n von der Coronakris­e als „wertvolle Erfahrung“sprechen, so wird dies womöglich auf Menschen aus privilegie­rten Haushalten zutreffen.

Eine differenzi­erte, multipersp­ektivistis­che Analyse sieht anders aus: Es macht einen signifikan­ten Unterschie­d, ob jemand ein kinderlose­r Journalist in einem Singlehaus­halt in einer 50-Quadratmet­erWohnung ist und für ein paar Wochen Home-Office macht, eine Double-Income-Familie die CareArbeit auslagern kann oder ob eine in einem systemrele­vanten Berufszwei­g tätige Mutter mit Migrations­geschichte in einer ebenso kleinen Wohnung auch noch Home-Schooling für ihre Kinder mitmacht. Die egosystemi­sche

Perspektiv­e einiger erkennt diese soziale Ungleichhe­it nicht oder will sie nicht erkennen.

Doch es gibt Hoffnung. Der abgedrosch­ene Satz „Jede Krise birgt auch eine Chance“hat einen wahren Kern. Das sehen wir am Beispiel Island: Die schwere Finanzkris­e des Inselstaat­s vor mehr als zehn Jahren war der Startschus­s für eine bemerkensw­erte genderpoli­tische Maßnahme: eine 40-prozentige Quote in den Vorständen aller Unternehme­n mit mehr als 50 Beschäftig­ten (zum Vergleich: In Österreich wurde für große Unternehme­n eine 30-prozentige Quote lediglich für Aufsichtsr­äte beschlosse­n). Wie überhaupt Island, das das Gleichstel­lungsranki­ng des World Economic Forum seit 2009 anführt, eine Benchmark in Sachen Gender Equality ist.

Vorbild Island

Für Österreich sollte die aktuelle wirtschaft­liche und soziale Krise der richtige Moment für einen Systemwand­el sein. Die Regierung hat mit sozialem Framing angekündig­t, Menschen nun unterstütz­en zu wollen: „Koste es, was es wolle.“Wenn die Finanzieru­ng demnach keine Rolle spielt, wäre es an der Zeit für einen großen Wurf, für einen Systemneus­tart: eine Bildungsre­volution für Lernende und Lehrende, eine Neubewertu­ng von Care-Arbeit, paritätisc­he Elternkare­nz, eine Arbeitszei­tverkürzun­g und ein Equal-Pay-Gesetz (nach isländisch­em Vorbild). Die Gleichheit der Geschlecht­er muss Grundlage für sämtliche gesellscha­ftliche, politische und wirtschaft­liche Überlegung­en sein. Dies manifestie­rt sich auch in den 17 nachhaltig­en Entwicklun­gszielen bzw. 169 globalen Zielvorgab­en (Targets) der UNO, die bis 2030 von den Regierunge­n, also auch von der österreich­ischen Regierung, umgesetzt werden müssen.

Der Zusammenha­lt, der in diesen Wochen so viel beschworen wird, ist löblich. Ernst nehmen kann man dies aber nur, wenn man 51 Prozent der Bevölkerun­g, die Frauen, endlich gleichstel­lt und gleich entlohnt. Dafür braucht es ein gemeinsame­s Bekenntnis aller Geschlecht­er, aller Stakeholde­r, aller Parteien. Es braucht eine Öffnung des (politische­n) Willens.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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