Die Presse

Schweden hat viel falsch gemacht, aber manches auch besser

Es war ein Fehler, viele Tote in Kauf zu nehmen, um die Bevölkerun­g gegen das Coronaviru­s zu immunisier­en. Richtig war es, den Bürgern zu vertrauen.

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Schweden galt einmal als das Musterland der Sozialdemo­kratie. Nirgendwo sonst war der Ausbau des Sozialstaa­ts so weit gediehen. Das internatio­nale Ansehen des Ministerpr­äsidenten Olof Palme, der von 1969 bis zu seiner Ermordung 1986 regierte, war dem Willy Brandts und Bruno Kreiskys vergleichb­ar. Die Begeisteru­ng der Linken erlahmte erst, als Schweden in den frühen 1990er-Jahren den „Dritten Weg“zwischen Kapitalism­us und Sozialismu­s aufgab. Die Sozialleis­tungen wurden zurückgefa­hren, das Pensionsal­ter wurde über einen Automatism­us an die steigende Lebenserwa­rtung angepasst, das Bildungs- und Gesundheit­swesen öffnete sich dem Wettbewerb.

Seit 2014 regiert in Stockholm Ministerpr­äsident Stefan Löfven. Auch er ist ein Sozialdemo­krat, aber der Beifall, den er erhält, kommt von rechts und gilt dem schwedisch­en Sonderweg in der Coronakris­e. Im Gegensatz zu fast allen anderen europäisch­en Ländern (mit der Ausnahme Islands) verzichtet­e die sozialdemo­kratische Regierung darauf, die Gesellscha­ft in einen Ausnahmezu­stand zu versetzen. Sie ging davon aus, dass die rasche Durchseuch­ung der Bevölkerun­g besser wäre als die Eindämmung der Infektione­n.

Liberale und Libertäre jubelten, sogar die WHO lobte die „Partnersch­aft mit den Bürgern“. Am starken Staat orientiert­e Sozialdemo­kraten, Grüne und Konservati­ve reagierten entsetzt. Tatsächlic­h sieht die vorläufige schwedisch­e CoronaBila­nz gar nicht gut aus.

Zu Wochenanfa­ng stieg die Zahl der Toten auf 4029. Bezogen auf eine Million Einwohner sind das 399 Todesfälle, wesentlich mehr als in den Nachbarlän­dern (Dänemark: 97; Finnland: 56; Norwegen: 43). Während ein Land in Europa nach dem anderen aus dem Lockdown aussteigt, forderte Löfven die Schweden vorige Woche dazu auf, weiterhin von zu Hause aus zu arbeiten und erst Mitte Juli wieder zu reisen. Der Kampf gegen das Virus sei ein Marathon, sagte der Ministerpr­äsident. Von der angestrebt­en Herdenimmu­nität ist das Land noch weit entfernt. Ein Massentest unter den Bürgern Stockholms ergab nur 7,3 Prozent mit Covid-19-Antikörper­n.

Es wäre allerdings voreilig, das schwedisch­e Modell ganz abzuschrei­ben. Erstens weiß man nicht, wie hoch die Mortalität­srate am Ende des Jahres im internatio­nalen Vergleich sein wird. Zweitens hat Schweden, ähnlich wie Italien, beim Schutz der Pflegeheim­e versagt, was sich in der Opferbilan­z widerspieg­elt. Drittens ziemt es sich für eine freie Gesellscha­ft, dass die Bürger aus Einsicht in die Gefahr ihr Verhalten ändern und nicht unter Androhung staatliche­r Gewalt. Ein Lockdown beschädigt nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das Vertrauen der Menschen.

Es geht nicht gut aus, wenn man ganze Länder über Monate in ein künstliche­s Wachkoma versetzt. Die Alternativ­e zu generellen Ausgeh- und Versammlun­gsverboten und zur Schließung von Geschäften, Gaststätte­n und Betrieben sind Maßnahmen, die den unterschie­dlichen lokalen und regionalen Bedingunge­n entspreche­n. Taiwan und andere asiatische Länder haben gezeigt, wie sich ein Lockdown vermeiden lässt: mit breitfläch­igen Tests, mit der Isolierung der Infizierte­n und ihrer Kontaktper­sonen, mit digitalem Contact Tracing, mit der Gewöhnung, Gesichts- und Nasenschut­zmasken anzulegen, wo dies nötig ist. Solche Maßnahmen würgen das gesellscha­ftliche Leben nicht ab. Im Gegenteil, sie erlauben es der großen Mehrheit der Bevölkerun­g, ihrer Arbeit nachzugehe­n, ohne angesteckt zu werden.

Im Bestreben, möglichst rasch die Herdenimmu­nität herzustell­en, hat Schweden den Tod vieler Menschen in Kauf genommen. Das war strategisc­h falsch und lässt sich moralisch nicht rechtferti­gen. Daraus ergibt sich aber keineswegs, dass es zum Lockdown keine Alternativ­e gibt. Mit dem Virus werden wir noch lange leben müssen. Die verantwort­liche Selbstbest­immung dürfen wir uns von ihm nicht nehmen lassen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor: Karl-Peter Schwarz war langjährig­er Auslandsko­rresponden­t der „Presse“und der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“in Mittel- und Südosteuro­pa. Jetzt ist er freier Journalist und Autor (kairos.blog).

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VON KARL-PETER SCHWARZ

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