Interview mit Martin Selmayr
Interview. Martin Selmayr, Vertreter der EU-Kommission in Wien, erläutert die Stoßrichtung des Post-Corona-Wiederaufbauplans der Brüsseler Behörde.
Die Presse: Welche Erwartungen soll der am Mittwoch von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen präsentierte Wiederaufbauplan erfüllen?
Martin Selmayr: Wir befinden uns in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Einige Mitgliedstaaten sind deutlich stärker betroffen als andere – ohne eigene Schuld. Die Europäische Kommission schlägt einen ehrgeizigen Wiederaufbauplan vor, damit wir nach Corona nicht als letzter Kontinent wieder auf die Beine kommen, sondern als einer der ersten. Wir haben einen Monat lang an dem Vorschlag gearbeitet und gehen davon aus, dass er grosso modo konsensfähig ist.
Stichwort grosso modo: Welche Punkte sind noch strittig? Die Weichenstellung ist bereits Ende April von den EU-Staatsund Regierungschefs gemacht worden: Damals wurde die Kommission beauftragt, das geplante Aufbauinstrument mit dem EU-Haushalt zu verknüpfen. Darüber gibt es nun einen Konsens – in dieser Krise wollen wir keine neue Institution gründen wie den Euro-Schutzschirm ESM, sondern den bewährten Budgetrahmen der EU nutzen. Die EU-Kommission wird also erstmals in einem großen Volumen Anleihen begeben – darüber herrscht Konsens unter den Mitgliedstaaten. Im Großen und Ganzen konsensfähig ist auch, dass wir diese Mittel größtenteils als Zuschüsse ausschütten wollen – wobei über den Mix im Rat wohl noch gesprochen wird. Die Kommission schlägt vor, das Wiederaufbauinstrument mit 750 Mrd. Euro auszustatten. Zwei Drittel sollen in Form von Zuschüssen vergeben werden, ein Drittel in Form von Krediten.
Freut man sich in der Kommission darüber, dass Brüssel auf den internationalen Finanzmärkten als großer Player auftreten kann?
Da unterschätzen Sie die Kommission. Sie ist nämlich bereits Player an den Finanzmärkten, und zwar seit der Finanzkrise. Wir Kommissionsbeamten leiden nicht gerade an Unterforderung . . .
. . . was ich Ihnen auch nicht unterstellen wollte.
Worüber man sich allerdings freuen kann, ist die Tatsache, dass wir es nun schaffen, in so schweren Zeiten eine Reform zustande zu bringen, die wir unter normalen Umständen nicht hinbekommen hätten: Die Wirtschafts- und Währungsunion wird für die Zeit der Krise um eine Fiskalunion ergänzt. Die Europäische Zentralbank konnte bisher nur nationale Anleihen kaufen, aber keine europäischen Anleihen als solche. Die geplante Neuerung wird Europa zudem für die Finanzmärkte attraktiver machen.
Warum?
Wenn wir an den Finanzmärkten gemeinsam und in großem Stil Anleihen begeben, dann handelt es sich um sichere Wertpapiere, die man von London bis nach Singapur wird kaufen können. Das verschafft Europa Sichtbarkeit und Bedeutung. In unserem Binnenmarkt fehlt bisher ein solches sicheres Wertpapier, hinter dem alle EU-Mitglieder stehen. Es ist teurer, nationales Geld in den ESM oder den EU-Haushalt einzuzahlen, als sich gemeinsam an den Finanzmärkten die Mittel zu beschaffen.
Sie sprechen von einer Fiskalunion für die Zeit der Krise. Ihre Beschreibung klingt aber nach einer permanenten Einrichtung.
Man soll nur jenes Geld ausgeben, das man tatsächlich braucht. Durch die Coronakrise hat sich der finanzielle Bedarf der EU deutlich erhöht. In den kommenden zwei bis drei Jahren benötigen wir auf europäischer Ebene zusätzlich rund eine Billion Euro, um die Folgen der Pandemie zu bekämpfen. Um das stemmen zu können, benötigen wir eine temporäre Ausweitung unseres Gesamtrahmens. Das ist für diese Zeit erforderlich, danach aber nicht mehr.
Könnte man in diesem Zusammenhang nicht die finanziellen Lasten etwas umschichten – weg von den nationalen EUBeiträgen, hin zu europäischen Eigenmitteln, etwa einer Plastiksteuer?
Es stimmt, der Vorschlag der Kommission bereitet einer stärkeren Finanzierung der EU durch Eigenmittel längerfristig den Weg. Der Einstieg in Eigenmittel ist auch deswegen sinnvoll, weil wir die coronabedingten Ausgaben längerfristig – also über den kommenden Budgetrahmen 2021–2027 hinaus – refinanzieren wollen. Wie weit man diese Eigenmittel lukrieren kann, hängt vom Willen der Mitgliedstaaten ab.