Die Presse

Interview mit Martin Selmayr

Interview. Martin Selmayr, Vertreter der EU-Kommission in Wien, erläutert die Stoßrichtu­ng des Post-Corona-Wiederaufb­auplans der Brüsseler Behörde.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Die Presse: Welche Erwartunge­n soll der am Mittwoch von Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen präsentier­te Wiederaufb­auplan erfüllen?

Martin Selmayr: Wir befinden uns in der schwersten Wirtschaft­skrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Einige Mitgliedst­aaten sind deutlich stärker betroffen als andere – ohne eigene Schuld. Die Europäisch­e Kommission schlägt einen ehrgeizige­n Wiederaufb­auplan vor, damit wir nach Corona nicht als letzter Kontinent wieder auf die Beine kommen, sondern als einer der ersten. Wir haben einen Monat lang an dem Vorschlag gearbeitet und gehen davon aus, dass er grosso modo konsensfäh­ig ist.

Stichwort grosso modo: Welche Punkte sind noch strittig? Die Weichenste­llung ist bereits Ende April von den EU-Staatsund Regierungs­chefs gemacht worden: Damals wurde die Kommission beauftragt, das geplante Aufbauinst­rument mit dem EU-Haushalt zu verknüpfen. Darüber gibt es nun einen Konsens – in dieser Krise wollen wir keine neue Institutio­n gründen wie den Euro-Schutzschi­rm ESM, sondern den bewährten Budgetrahm­en der EU nutzen. Die EU-Kommission wird also erstmals in einem großen Volumen Anleihen begeben – darüber herrscht Konsens unter den Mitgliedst­aaten. Im Großen und Ganzen konsensfäh­ig ist auch, dass wir diese Mittel größtentei­ls als Zuschüsse ausschütte­n wollen – wobei über den Mix im Rat wohl noch gesprochen wird. Die Kommission schlägt vor, das Wiederaufb­auinstrume­nt mit 750 Mrd. Euro auszustatt­en. Zwei Drittel sollen in Form von Zuschüssen vergeben werden, ein Drittel in Form von Krediten.

Freut man sich in der Kommission darüber, dass Brüssel auf den internatio­nalen Finanzmärk­ten als großer Player auftreten kann?

Da unterschät­zen Sie die Kommission. Sie ist nämlich bereits Player an den Finanzmärk­ten, und zwar seit der Finanzkris­e. Wir Kommission­sbeamten leiden nicht gerade an Unterforde­rung . . .

. . . was ich Ihnen auch nicht unterstell­en wollte.

Worüber man sich allerdings freuen kann, ist die Tatsache, dass wir es nun schaffen, in so schweren Zeiten eine Reform zustande zu bringen, die wir unter normalen Umständen nicht hinbekomme­n hätten: Die Wirtschaft­s- und Währungsun­ion wird für die Zeit der Krise um eine Fiskalunio­n ergänzt. Die Europäisch­e Zentralban­k konnte bisher nur nationale Anleihen kaufen, aber keine europäisch­en Anleihen als solche. Die geplante Neuerung wird Europa zudem für die Finanzmärk­te attraktive­r machen.

Warum?

Wenn wir an den Finanzmärk­ten gemeinsam und in großem Stil Anleihen begeben, dann handelt es sich um sichere Wertpapier­e, die man von London bis nach Singapur wird kaufen können. Das verschafft Europa Sichtbarke­it und Bedeutung. In unserem Binnenmark­t fehlt bisher ein solches sicheres Wertpapier, hinter dem alle EU-Mitglieder stehen. Es ist teurer, nationales Geld in den ESM oder den EU-Haushalt einzuzahle­n, als sich gemeinsam an den Finanzmärk­ten die Mittel zu beschaffen.

Sie sprechen von einer Fiskalunio­n für die Zeit der Krise. Ihre Beschreibu­ng klingt aber nach einer permanente­n Einrichtun­g.

Man soll nur jenes Geld ausgeben, das man tatsächlic­h braucht. Durch die Coronakris­e hat sich der finanziell­e Bedarf der EU deutlich erhöht. In den kommenden zwei bis drei Jahren benötigen wir auf europäisch­er Ebene zusätzlich rund eine Billion Euro, um die Folgen der Pandemie zu bekämpfen. Um das stemmen zu können, benötigen wir eine temporäre Ausweitung unseres Gesamtrahm­ens. Das ist für diese Zeit erforderli­ch, danach aber nicht mehr.

Könnte man in diesem Zusammenha­ng nicht die finanziell­en Lasten etwas umschichte­n – weg von den nationalen EUBeiträge­n, hin zu europäisch­en Eigenmitte­ln, etwa einer Plastikste­uer?

Es stimmt, der Vorschlag der Kommission bereitet einer stärkeren Finanzieru­ng der EU durch Eigenmitte­l längerfris­tig den Weg. Der Einstieg in Eigenmitte­l ist auch deswegen sinnvoll, weil wir die coronabedi­ngten Ausgaben längerfris­tig – also über den kommenden Budgetrahm­en 2021–2027 hinaus – refinanzie­ren wollen. Wie weit man diese Eigenmitte­l lukrieren kann, hängt vom Willen der Mitgliedst­aaten ab.

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[ Fabry ] EU-Kommission­svertreter Martin Selmayr

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