Lady Gaga im geistlosen Wunderland
Neues Album. Auf „Chromatica“präsentiert Lady Gaga abermals ihre Vision einer Popmusik, die programmatisch nur Oberfläche ist. Diesmal ohne Kunststudentinnen-Attitüde, zu Techno-Rhythmen aus dem letzten Jahrhundert.
Auf „Chromatica“präsentiert Lady Gaga abermals ihre Vision einer Popmusik, die programmatisch nur Oberfläche ist.
Darum gab man der Stadt den Namen Babel, Wirrsal, denn dort hat der Herr die Sprache der ganzen Erde verwirrt“: In der biblischen Erzählung vom Turmbau (1. Mose, 11) wird Babylon – wohl spielerisch – von der hebräischen Form „balal“(er verwirrte) abgeleitet.
Lady Gaga präsentiert in „Babylon“, dem letzten Song ihres neuen Albums „Chromatica“, eine andere Ableitung: „Babble on“, brabbelt weiter, plaudert weiter. Womit sie, die alte Warholianerin, bei einem Lieblingsthema Andy Warhols ist: Gossip, Tratsch, Party-Smalltalk. „We can party like it’s B. C.“, singt sie, den Prince-Slogan aus „1999“variierend, sozusagen das Partyjahr in die vorchristliche Zeit (B. C. = v. Chr.) verlegend. Und sie träumt davon, auf dem Turm von Babel zu tanzen, den Himmel zu erklimmen, aber ohne folgende Sprachverwirrung: „Speaking languages in a blood pop moonlight.“
Im geistlosen Wunderland
So predigt sie ihre Idee vom Pop als geistlosem Pfingstwunder, als Weltsprache, die jeder versteht, einfach weil es nichts zu verstehen gibt, weil keine Bedeutung hinter der Oberfläche ist. In diesem Song, passenderweise mit Gospel-Anklängen arrangiert, formuliert die New Yorker Ex-Kunststudentin Stefani Joanne Angelina Germanotta, die sich selbst zu Lady Gaga gemacht hat, ihre Botschaft neu, sozusagen als antispirituelles Manifest. Ein Nachtrag zu ihrem Album „Art Pop“(2013), auf dem sie sich zur „rich bitch“stilisierte, die sich unter tätiger Mithilfe von Jeff Koons und mit Cicciolina-Frisur als Erbnichte der Pop-Art gerierte. Das war schon ein ziemlich aufgesetztes Selbstironie-Getändel, aber wenigstens hübsch grell.
Diesmal bleibt „Babylon“der einzige Song, der irgendwie originell ist. Sonst sucht Lady Gaga, 53 Jahre nach „White Rabbit“von Jefferson Airplane, in „Alice“nach dem Wunderland, wo sie dann einen DJ anbrabbelt („Take me on a trip, free my mind“). Sie bekennt sich mutig zur „Stupid Love“, fliegt in „1000 Doves“mit den Tauben (keine pfingstliche Anspielung), erklärt sich zur „Free Woman“, die für den Dancefloor kämpft. Und das hat sie schon vor Corona gedichtet! Was für eine Prophetin! In „Enigma“wird sie sogar kurz erkenntniskritisch: „Is what I am seeing real, or is it just a sign? Is it all just virtual?“
Ein „Plastic Girl“sei sie nicht, singt sie im so benannten Stück, um gleich darauf festzuhalten: „I’ve got blonde hair and cherry lips, I’m state of art, I’m microchipped, am I your type?“Nicht einmal die Süßigkeiten-Metapher, von Madonna schon 2008 auf „Hard Candy“strapaziert, darf fehlen: In „Sour Candy“fordert die Lady auf: „Come, unwrap me!“Muss nicht sein.
Der große Unterschied zu Madonna
Als neue Madonna hat sich Lady Gaga seit Beginn ihrer Karriere vorgestellt. Nach zwölf Jahren darf man einen Unterschied zwischen den beiden klarstellen: Madonna hat stets – wenn auch manchmal ungeschickt – Inspirationen aus Popkulturen abseits des Mainstreams gesucht, hat etwa – wenn auch manchmal unangenehm maternalistisch – Vertreter schwuler oder schwarzer Szenen integriert. Lady Gaga dagegen bleibt mit Nachdruck beim Mainstream. Dort ist sie, dort will sie sein. Wenn sie sich Gäste holt, dann keine Nachwuchstalente, sondern Stars. Diesmal Ariane Grande, die koreanische Girlgroup Blackpink und Elton John.
Elton John! Okay, Madonna würde dem Altmeister der gepflegt faden Rockschnulze heute auch nicht den Ellbogencheck verweigern, aber mit ihm ein Duett singen? Sich von ihm im Lied onkelhaft erklären lassen, dass man sich halt unsterblich fühlt, solange man jung ist, aber dann . . . Und dann mit ihm in trauter Harmonie Zeilen schmachten wie: „The sound created stars like me and you.“Nein, das ist nicht camp, das ist peinlich. So peinlich wie der sphärische Hall, mit dem Lady Gaga ihren Gesang unterlegen lässt. Wie der Dorfdisco-Techno, der nicht nur diesen Song, sondern das gesamte Album dominiert. Wobei das kleine Drumand-Bass-Furioso am Ende von „Sine From Above“noch erfrischend wirkt.
Was sagt Lady Gaga selbst über ihr neues Album? „Ich will, dass die Leute tanzen und glücklich sind. Ich möchte Musik veröffentlichen, die ein großer Teil der Welt hören wird, und ich möchte, dass sie ein Teil ihres Alltags wird und sie jeden Tag glücklich macht.“Und in einem Interview: „Es geht um Heilung und Tapferkeit.“Super. Mega. Tera. Tapfere neue Welt. Große Freude in Babylon. Hoffentlich gibt es dort noch einen Fluss, an den man sich setzen und weinen kann. In diesem Sinn: Frohe Pfingsten.