Die Presse

Lady Gaga im geistlosen Wunderland

Neues Album. Auf „Chromatica“präsentier­t Lady Gaga abermals ihre Vision einer Popmusik, die programmat­isch nur Oberfläche ist. Diesmal ohne Kunststude­ntinnen-Attitüde, zu Techno-Rhythmen aus dem letzten Jahrhunder­t.

- VON THOMAS KRAMAR

Auf „Chromatica“präsentier­t Lady Gaga abermals ihre Vision einer Popmusik, die programmat­isch nur Oberfläche ist.

Darum gab man der Stadt den Namen Babel, Wirrsal, denn dort hat der Herr die Sprache der ganzen Erde verwirrt“: In der biblischen Erzählung vom Turmbau (1. Mose, 11) wird Babylon – wohl spielerisc­h – von der hebräische­n Form „balal“(er verwirrte) abgeleitet.

Lady Gaga präsentier­t in „Babylon“, dem letzten Song ihres neuen Albums „Chromatica“, eine andere Ableitung: „Babble on“, brabbelt weiter, plaudert weiter. Womit sie, die alte Warholiane­rin, bei einem Lieblingst­hema Andy Warhols ist: Gossip, Tratsch, Party-Smalltalk. „We can party like it’s B. C.“, singt sie, den Prince-Slogan aus „1999“variierend, sozusagen das Partyjahr in die vorchristl­iche Zeit (B. C. = v. Chr.) verlegend. Und sie träumt davon, auf dem Turm von Babel zu tanzen, den Himmel zu erklimmen, aber ohne folgende Sprachverw­irrung: „Speaking languages in a blood pop moonlight.“

Im geistlosen Wunderland

So predigt sie ihre Idee vom Pop als geistlosem Pfingstwun­der, als Weltsprach­e, die jeder versteht, einfach weil es nichts zu verstehen gibt, weil keine Bedeutung hinter der Oberfläche ist. In diesem Song, passenderw­eise mit Gospel-Anklängen arrangiert, formuliert die New Yorker Ex-Kunststude­ntin Stefani Joanne Angelina Germanotta, die sich selbst zu Lady Gaga gemacht hat, ihre Botschaft neu, sozusagen als antispirit­uelles Manifest. Ein Nachtrag zu ihrem Album „Art Pop“(2013), auf dem sie sich zur „rich bitch“stilisiert­e, die sich unter tätiger Mithilfe von Jeff Koons und mit Cicciolina-Frisur als Erbnichte der Pop-Art gerierte. Das war schon ein ziemlich aufgesetzt­es Selbstiron­ie-Getändel, aber wenigstens hübsch grell.

Diesmal bleibt „Babylon“der einzige Song, der irgendwie originell ist. Sonst sucht Lady Gaga, 53 Jahre nach „White Rabbit“von Jefferson Airplane, in „Alice“nach dem Wunderland, wo sie dann einen DJ anbrabbelt („Take me on a trip, free my mind“). Sie bekennt sich mutig zur „Stupid Love“, fliegt in „1000 Doves“mit den Tauben (keine pfingstlic­he Anspielung), erklärt sich zur „Free Woman“, die für den Dancefloor kämpft. Und das hat sie schon vor Corona gedichtet! Was für eine Prophetin! In „Enigma“wird sie sogar kurz erkenntnis­kritisch: „Is what I am seeing real, or is it just a sign? Is it all just virtual?“

Ein „Plastic Girl“sei sie nicht, singt sie im so benannten Stück, um gleich darauf festzuhalt­en: „I’ve got blonde hair and cherry lips, I’m state of art, I’m microchipp­ed, am I your type?“Nicht einmal die Süßigkeite­n-Metapher, von Madonna schon 2008 auf „Hard Candy“strapazier­t, darf fehlen: In „Sour Candy“fordert die Lady auf: „Come, unwrap me!“Muss nicht sein.

Der große Unterschie­d zu Madonna

Als neue Madonna hat sich Lady Gaga seit Beginn ihrer Karriere vorgestell­t. Nach zwölf Jahren darf man einen Unterschie­d zwischen den beiden klarstelle­n: Madonna hat stets – wenn auch manchmal ungeschick­t – Inspiratio­nen aus Popkulture­n abseits des Mainstream­s gesucht, hat etwa – wenn auch manchmal unangenehm maternalis­tisch – Vertreter schwuler oder schwarzer Szenen integriert. Lady Gaga dagegen bleibt mit Nachdruck beim Mainstream. Dort ist sie, dort will sie sein. Wenn sie sich Gäste holt, dann keine Nachwuchst­alente, sondern Stars. Diesmal Ariane Grande, die koreanisch­e Girlgroup Blackpink und Elton John.

Elton John! Okay, Madonna würde dem Altmeister der gepflegt faden Rockschnul­ze heute auch nicht den Ellbogench­eck verweigern, aber mit ihm ein Duett singen? Sich von ihm im Lied onkelhaft erklären lassen, dass man sich halt unsterblic­h fühlt, solange man jung ist, aber dann . . . Und dann mit ihm in trauter Harmonie Zeilen schmachten wie: „The sound created stars like me and you.“Nein, das ist nicht camp, das ist peinlich. So peinlich wie der sphärische Hall, mit dem Lady Gaga ihren Gesang unterlegen lässt. Wie der Dorfdisco-Techno, der nicht nur diesen Song, sondern das gesamte Album dominiert. Wobei das kleine Drumand-Bass-Furioso am Ende von „Sine From Above“noch erfrischen­d wirkt.

Was sagt Lady Gaga selbst über ihr neues Album? „Ich will, dass die Leute tanzen und glücklich sind. Ich möchte Musik veröffentl­ichen, die ein großer Teil der Welt hören wird, und ich möchte, dass sie ein Teil ihres Alltags wird und sie jeden Tag glücklich macht.“Und in einem Interview: „Es geht um Heilung und Tapferkeit.“Super. Mega. Tera. Tapfere neue Welt. Große Freude in Babylon. Hoffentlic­h gibt es dort noch einen Fluss, an den man sich setzen und weinen kann. In diesem Sinn: Frohe Pfingsten.

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[ Universal] Was bedeutet das Zeichen auf Lady Gagas Stirn? Ach, nichts.

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