Die Presse

„Man liebt sich nicht genug“

Interview. Jean-Claude Juncker fordert von allen EUMitglied­ern mehr Solidaritä­t ein und sorgt sich um das Urteil des deutschen Verfassung­sgerichts zu den Anleihenkä­ufen der EZB.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Jean-Claude Juncker hofft im Gespräch mit der „Presse“auf künftig mehr Solidaritä­t. Acht Seiten zum Thema Europa und die Krise.

Die Presse: Gäbe es eine europapoli­tische Richterska­la – wie würden Sie das Erdbeben einstufen, das Corona in der EU verursacht hat?

Jean-Claude Juncker: Mit Seismologi­e kenne ich mich nicht sonderlich gut aus, aber ich halte die Erschütter­ung nicht für apokalypti­sch. Wir haben es mit einem globalen Problem zu tun, dessen Ursachen nicht in Europa zu suchen sind. Es hat ein Weilchen gebraucht, bis hier alle gemerkt haben, dass man auf eine derart massive Krise nicht national reagieren kann, sondern gemeinscha­ftlich reagieren muss. Corona ist für die EU eine ernste Herausford­erung, aber keine ernste Bedrohung.

Wie beurteilen Sie die bisherige Performanc­e der europäisch­en Krisenfeue­rwehr?

Am Anfang herrschte Unordnung. Es gab nicht einmal den Versuch, eine gemeinsame europäisch­e Antwort auf die Krise zu formuliere­n. Jeder hat sein nationales Corona-Süppchen gekocht. Dass es so kam, war nicht völlig unerwartet – denn in Fragen der Gesundheit­spolitik hat die Europäisch­e Kommission keine Kompetenz. Es gab in Folge einige Fehlentsch­eidungen, beispielsw­eise Exportverb­ote von medizinisc­hem Material in andere EU-Länder, relativ wahllose Grenzschli­eßungen. Doch dann hat die EU-Kommission Maßnahmen zur Sicherung des Binnenmark­ts getroffen. Der Rat hat ein Hilfspaket in die Wege geleitet. Und schlussend­lich legten Deutschlan­d und Frankreich vergangene Woche einen gemeinsame­n Vorschlag vor. . .

. . . der 500 Mrd. Euro für die Bekämpfung der Folgen der Seuche vorsieht . . .

. . . und der in die richtige Richtung geht, obwohl viele Details noch offen sind. Diese solidarisc­he Herangehen­sweise, was die Kosten von Corona anbelangt, ist meiner Ansicht nach der essenziell­e Bestandtei­l einer Lösung.

Von den sogenannte­n „Frugalen Vier“– zu denen neben den Niederland­en, Dänemark und Schweden auch Österreich zählt – hört man, nicht Solidaritä­t, sondern Sparsamkei­t sei in der EU das Gebot der Stunde.

Die von Ihnen genannten Länder sind vor allem dann sparsam, wenn es um zukunftswe­isende Vorschläge geht. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Den Hinweis, dass man Geld nicht wahllos verschleud­ern dürfe, halte ich für durchaus wertvoll, denn diese Stimmen müssen gehört werden. Aber man muss auch sehen, dass Corona die EUMitglied­er unterschie­dlich stark trifft. Ich halte daher den deutsch-französisc­hen Vorschlag für angemessen. Wenn wir aus vermeintli­cher Sparsamkei­t zulassen, dass Südeuropa aus der Bahn geworfen wird, werden die Auswirkung­en auf die gesamte europäisch­e Wirtschaft gravierend sein. Man kann nicht sagen, die Italiener, Spanier und Griechen hätten in der Vergangenh­eit zu wenig gespart. Das mag wohl sein, aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass die Defizite in den vergangene­n Jahren stark reduziert worden sind.

Der Konflikt zwischen Eigenveran­twortung und Solidaritä­t trat bereits während der Eurokrise und der Flüchtling­skrise zutage. Warum tut sich die EU so schwer damit, ihn zu entschärfe­n?

Weil die Europäer es verlernt haben, ihre Nachbarn zu mögen. Man liebt sich nicht genug in Europa und tut so, als ob Hilfestell­ung etwas Obszönes wäre. Die Tugend, anderen zu helfen, Solidaritä­t zu zeigen, gehört aber zur DNA der Europäisch­en Union. Es geht um gut dosierte Solidaritä­t. Insofern verstehe ich diesen immer wieder aufflammen­den Disput zwischen Nord und Süd, Ost und West, nicht. Auf diese Weise treibt man den EU-Bürgern jegliche Sympathie für Europa aus. Nicht alles, was zuhause politisch gut ankommt, ist das, worauf es in Europa wirklich ankommt.

Auch dieses Phänomen ist nicht neu. Das alte EU-Bonmot „Wir wissen, was zu tun ist. Wir wissen allerdings nicht, wie wir danach wiedergewä­hlt werden sollen“stammt ja von Ihnen selbst.

Die politische Bewältigun­g der jetzigen Krise ist wesentlich einfacher, als dies während der Schuldenkr­ise der Fall war.

Warum?

Weil damals die finanziell­e Unterstütz­ung für Griechenla­nd permanent begründet werden musste. Ich war damals Präsident der Eurogruppe und weiß noch genau, wie anstrengen­d diese Überzeugun­gsarbeit ge

(*1954) gilt als einer der erfahrenst­en Europapoli­tiker. Der Christdemo­krat war von 1989 bis 2009 der Finanz- und von 1995 bis 2013 der Premiermin­ister Luxemburgs. Als Vorsitzend­er der Eurogruppe (2005-2013) war Juncker in die Bekämpfung der Eurokrise involviert. Zur Europawahl 2014 trat er als Spitzenkan­didat der EVP an. Nach dem Wahlsieg stand er bis November 2019 an der Spitze der Europäisch­en Kommission. wesen ist. Diesmal ist es einfacher. Jeder weiß, dass die Seuche die besonders stark betroffene­n Länder unverschul­det trifft. Man muss nicht begründen, warum Geld in die Hand genommen wird. Man kann darüber streiten, wie dieses Geld verteilt werden soll. Aber die Tatsache, dass dieses Geld benötigt wird, streitet niemand ernsthaft ab.

Sehen Sie die Pandemie als Chance, dass Europäer wieder Solidaritä­t lernen?

Es gab immer wieder Anläufe zu mehr Solidaritä­t, keine Frage. Aber jetzt haben wir die Chance, Solidaritä­t längerfris­tig zu üben. Wenn Italiener und Spanier unglücklic­h sind, können Österreich­er und Luxemburge­r keine fröhlichen Feste feiern. Wir sind alle betroffen.

Welche Zutaten braucht europäisch­e Krisenbekä­mpfung, um erfolgreic­h zu sein? Zunächst einmal brauchen alle Beteiligte­n ein Gespür für die Vorkommnis­se außerhalb ihres eigenen Mitgliedst­aats. Sie müssen gut sehen und gut zuhören können. Vor allem die EU-Kommission braucht große Ohren – sie muss alles hören, was außerhalb von Brüssel passiert. Weiters braucht es eine gute Zusammenar­beit zwischen den Institutio­nen der EU – Rat, Kommission, Parlament, auch Europäisch­e Zentralban­k, die ja immer wieder in die Bresche springen muss. Man braucht auch einen besonderen Draht nach Berlin und

Paris. Und die beiden brauchen untereinan­der eine drahtlose Verbindung . . .

. . . Telepathie sozusagen . . .

. . . ja, aber keine spontane, sondern eine strukturel­l angelegte Telepathie. Berlin und Paris allein reichen aber nicht aus. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Vorstellun­g, Deutschlan­d und Frankreich könnten im Alleingang Lösungen organisier­en, falsch ist. Die beiden können Lösungen beschleuni­gen, aber ohne Österreich­er, Niederländ­er, Rumänen, Slowaken und allen anderen geht es nicht. Wenn es eine Lösung gibt, dann muss es die Lösung aller sein, und nicht die Lösung einiger.

Sie standen von 2014 bis 2019 an der Spitze der Kommission. Hatten Sie in diesem Zeitraum jemals den Gedanken „Ui, das wird jetzt knapp“– beispielsw­eise im Sommer 2015, als der Rauswurf Griechenla­nds aus der Eurozone möglich schien? Ich habe manchmal in den Abgrund geblickt. Aber nur, weil ich alle theoretisc­hen Möglichkei­ten abklopfen wollte. Und nicht, weil ich gedacht hätte, wir stünden tatsächlic­h am Rand des Abgrunds.

Eine Krise haben wir noch nicht angesproch­en: jene der Rechtsstaa­tlichkeit in der EU. Hätte man, rückblicke­nd betrachtet, Ungarn und Polen früher die Grenzen aufzeigen sollen?

Das dazu notwendige Instrument­arium hat man erst jetzt – und das in unvollkomm­ener Form. Meine Kommission hat sowohl Polen als auch Ungarn vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f geklagt und die meisten Prozesse gewonnen. Deshalb macht mich auch die jüngste Rechtsprec­hung des deutschen Bundesverf­assungsger­ichts so besorgt, weil hier mit dem Prinzip des Primats des Gemeinscha­ftsrechts gebrochen wurde.

Welche Folgen befürchten Sie?

Das Urteil könnte dazu führen, dass man sich in Budapest und Warschau an den deutschen Verfassung­srichtern in Karlsruhe ein Beispiel nimmt und den Europäisch­en Gerichtsho­f nicht zur Kenntnis nimmt. Wenn das passiert, dann bricht die gesamte Rechtsordn­ung der Europäisch­en Union zusammen.

Droht uns jetzt auch noch eine Krise der Rechtsordn­ung?

Das hängt von den Schritten ab, die nun in Deutschlan­d gesetzt werden. Die nächsten Wochen werden für die harmonisch­e Entwicklun­g des europäisch­en Rechts entscheide­nd sein. Ich bin sehr besorgt.

Wie schwer wiegt das Problem?

Es ist kein simpler Streit unter Richtern, den es immer wieder zwischen Instanzen gibt. Hier steht ein europäisch­er Grundsatz auf dem Spiel. Im schlimmste­n Fall droht uns der Bruch mit einem bis dato nie infrage gestellten Tabu.

Kann die EU funktionie­ren, wenn das Primat des EuGH in Fragen des EU-Rechts nicht mehr gilt?

Wenn eine zunehmende Zahl von Mitgliedst­aaten den EuGH als Freizeitve­rein betrachtet, dann steht die Existenz der gesamten Europäisch­en Union auf dem Spiel.

IMPRESSUM: EUROPA VERTIEFEN

Diese Beilage wurde von der „Presse“-Redaktion in Unabhängig­keit gestaltet. Sie ist mit finanziell­er Unterstütz­ung des Bundesmini­steriums für europäisch­e und internatio­nale Angelegenh­eiten sowie des Bundeskanz­leramts möglich geworden. Medieninha­ber: „Die Presse“VerlagsGes.m.b.H&Co KG, Hainburger Str. 33, 1030 Wien, T: 01/514 14-Serie Geschäftsf­ührer: Mag. H. Langanger, R. Nowak Chefredakt­eur/Herausgebe­r: R. Nowak Redaktion: Mag. M. Laczynski, Mag. A. Gabriel, Dr. G. Bitzan Art Director & Illustrato­r: M. Goleminov Hersteller: Herold Druck- und Verlag AG, Faradaygas­se 6, 1032 Wien

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 ?? [ MAR/picturedes­k.com ] ?? „Wenn der EuGH zunehmend als Freizeitve­rein betrachtet wird, steht die Existenz der gesamten Europäisch­en Union auf dem Spiel“, warnt Jean-Claude Juncker.
[ MAR/picturedes­k.com ] „Wenn der EuGH zunehmend als Freizeitve­rein betrachtet wird, steht die Existenz der gesamten Europäisch­en Union auf dem Spiel“, warnt Jean-Claude Juncker.

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