Interview mit Alexander Schallenberg: „Österreichs rote Linie ist das Völkerrecht“
Interview. Außenminister Schallenberg verteidigt den neuen kantigen Stil der österreichischen Diplomatie, weist Kritik an den „Sparsamen Vier“zurück, warnt vor einer Westbank-Annexion und rechnet ab mit der Politik der erhobenen Zeigefinger.
Die österreichische Außenpolitik ist in den vergangenen Jahren kantiger geworden. Besteht nicht die Gefahr, dass Österreich am Ende allein dasteht, wenn es sich zu oft exponiert?
Alexander Schallenberg: In der österreichischen Außenpolitik ist ein Reifeprozess eingetreten. Wir waren nach dem EU-Beitritt 1995 als neutraler Staat sehr bemüht, im Mainstream anzudocken. Jetzt gibt es eine größere Bereitschaft, sich selber eine Meinung zu bilden und sie auch zu artikulieren. Dabei macht aber der Ton die Musik. Wesentlich in der EU ist, immer verhandlungsbereit und paktfähig zu sein.
Wie viele Joker hat ein Land der Größe Österreichs frei, um gegen den außenpolitischen Strom zu schwimmen?
Österreich muss sich gut überlegen, welche diplomatische Schlachten es führt. Es ist ein interessantes Phänomen: Einerseits wird uns vorgeworfen, zu wenig Profil zu haben. Und kaum vertritt Österreich eigene Positionen, erschrecken einige schon vor dem eigenen Schatten und haben Angst vor der eigenen Courage. Wir dürfen uns nicht scheuen, eigene Interessen wahrzunehmen. Aber eines der Hauptinteressen Österreichs ist selbstverständlich eine funktionierende EU. Wenn es sie nicht gäbe, müssten wir sie erfinden. Wer Österreich eine anti-europäische Politik unterstellt, irrt.
Österreich war nie pro-israelischer als jetzt. Das ist ein Paradigmenwechsel. Neulich wollten die EU-Außenminister Israel in einer Erklärung davor warnen, das Westjordanland zu annektieren. Nur Sie und Ungarn stemmten sich dagegen.
Ja, es gab eine Änderung in der österreichischen Linie, sie trägt ganz eindeutig die Handschrift des Bundeskanzlers. Das spiegelt sich im Regierungsprogramm wider, das eine klare Sprache zur historischen Verantwortung Österreichs für Israel enthält. Ich finde das sehr gut. Denn Österreich hat sich, anders als Deutschland, viele Jahre vor der Verantwortung für die Geschichte gedrückt. Freund Israels zu sein heißt nicht, dass man nicht Freund der Palästinenser und der arabischen Welt sein kann.
Zuletzt ist Österreich weiter in Richtung der israelischen Regierung gegangen als Deutschland. Überkompensiert Österreich nun frühere Versäumnisse?
Ich war der Meinung, dass es nicht der richtige Moment ist, die israelische Regierung am Tag der Angelobung mit einer expliziten Warnung vor der Annexion der Westbank zu begrüßen. Doch es gibt an der österreichischen Haltung zur Annexion keinen Zweifel, ich habe sie auch Israels Außenminister mitgeteilt. Die einseitige Ausdehnung von Territorium widerspricht dem internationalen Recht und zahlreichen Sicherheitsratsresolutionen seit 1967. Ein Land der Größe Österreichs braucht das Völkerrecht. Das ist eine Frage unserer Sicherheit. Die rote Linie Österreichs ist das Völkerrecht.
Auch bei der Ablehnung des UN-Migrationspakts zog Österreich an einem Strang mit Ungarn. Fühlen Sie sich wohl in dieser Gesellschaft?
Manche wollen uns reflexartig in diese Ecke drücken. Nur weil Ungarn eine Position vertritt, ist sie damit tabu?
In der Coronakrise wollten die EU-Staaten ihre Sorge vor Eingriffen in Grundrechte ausdrücken. Man nannte kein Land, meinte damit aber Ungarn. Warum hat Österreich da nicht mitgemacht?
Die stille Diplomatie hat Vorteile. Wir besprechen diese Angelegenheiten mit unseren Nachbarn. Zweitens: Wir wollten in der Erklärung festhalten, dass die EU-Kommission in allen Mitgliedstaaten untersuchen soll, wie im Zuge der Pandemie vorübergehend aus gesundheitlichen Gründen in Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit eingegriffen wurde. Denn es geschah auch überall. Diese Passage haben einzelne Mitglieder dann aus dem Text streichen lassen. Wir sollten in der Union keine Scherbengerichte veranstalten. Wer mit zweierlei Maß misst, gefährdet die EU am meisten. Grundwerte der EU sind nicht verhandelbar, aber es darf für niemanden Rabatte und keine Zweiklassengesellschaft in der EU geben, in der sich der Westen für sakrosankt hält und den Osten grundsätzlich verdächtigt.
Österreich äußert sich wertemäßig kaum. Richtet Österreich seine Außenpolitik bewusst realpolitischer aus als andere? Österreichs Außenpolitik war immer pragmatisch, aber genauso werte- und regelbasiert ausgerichtet. Ein exportorientiertes Land wie Österreich geht unter, wenn das Gesetz des Dschungels herrscht. Manche spotten naserümpfend über das Konzept des Brückenbauers, doch Österreich liegt tatsächlich an einer Kreuzung im Herzen des Kontinents. Und wir Österreicher haben auch ein Gespür für Ungerechtigkeiten. In der Außenpolitik muss man sehr darauf achten, nicht selbstgerecht zu werden. Als Außenminister hat man mit 193 Staaten zu tun, davon haben zwei Drittel nicht gerade die gleichen Politik- und Gesellschaftssysteme wie wir. Wir müssen trotzdem einen Modus vivendi finden, weil wir diese Welt mit ihnen teilen. Man darf nicht mit erhobenem Zeigefinger durch die Welt laufen. Europa wird noch zu stark so wahrgenommen.
Aber ist es richtig, leisezutreten? Das tun wir nicht.
Ich finde schon. Sie kommen von einer Balkan-Reise, dort hat Österreich wirklich etwas zu sagen. Aber wo bleibt der österreichische Zwischenruf in Serbien, das immer autokratischer wird?
Ich habe in Serbien und dem Kosovo sehr deutliche Worte gefunden.
Öffentlich nicht.
Ich halte nichts von Megafonpolitik. In der Diplomatie geht um zwischenstaatliche Beziehungen. Das mag für Journalisten unbefriedigend sein. Aber wir wissen um unsere Verantwortung, wir haben Hebel.
Bewirkt Österreich etwas mit diesem Hebel? Serbiens Regierung schüchtert Opposition und Medien ziemlich ungeniert ein. Es hat a` la longue Wirkung. Denn etwas brauchen diese Staaten alle: ausländische Investitionen. Aber ich drehe es einmal um: Bewirken Regierungen, die mit dem Megafon durch die Welt laufen, etwas?
Eher als jene, die schweigen.
Es geht nicht um Schweigen. Jeder Staat muss wahrnehmen, wo er gehört wird und wo bei anderen innerlich die Schranken heruntergehen, weil sie gar nicht mehr zuhören wollen. Solang wir ein geschätzter Gesprächspartner sind, haben wir einen gewissen Einfluss. Staaten reagieren manchmal wie Menschen. Wenn man sie an den Pranger stellt und bedrängt, werden sie trotzig und lenken erst recht nicht ein.
In China wird Österreich allein nichts ausrichten, aber vielleicht mit der EU. Die Volksrepublik schleift die Freiheitsrechte in Hongkong. Soll Europa darauf reagieren oder einfach nur zuschauen?
Europa soll darauf reagieren. Wichtig ist die Wahrung der Autonomie Hongkongs, wie sie auch in der „Ein Land, zwei Systeme“Politik vorgegeben ist. Aber auch da ist es sinnvoller, sich mit China an einen Tisch zu setzen, als nach Applaus von Leitartiklern zu heischen. Unser Problem gegenüber China ist es, eine gemeinsame Position zu finden, auch zum Seidenstraßen-Projekt.
China hat leichtes Spiel in Europa, weil es sich einzelne Staaten herauspicken kann. Was in Europa fehlt, ist eine ehrliche Diskussion. Das reicht von Libyen über Syrien bis China. Jedes EU-Mitglied sollte seine Position offen auf den Tisch legen. Erst dann können wir es schaffen, zu einer gemeinsamen Position zu kommen. Ich sage das als ein im Herzen überzeugter Pro-Europäer. Die Österreicher wären in vielerlei Fällen die Ersten, die bei einer europäischen Außenpolitik mitgehen würden.
In der Coronakrise sah man, dass Nationalstaaten sich selbst am nächsten sind. Die Außenpolitik wird nach der Pandemie nicht mehr dieselbe sein. Der Bilateralismus war in der Krise dominanter als der Multilateralismus. OSZE, UNO und Europarat sind in den Hintergrund getreten.
In der EU machte jeder, was er wollte.
Wir waren ohne Drehbuch. Die EU hat nur eine ergänzende Kompetenz im Gesundheitsbereich. Beim Wiederaufbau kommt nun Europa wieder stärker ins Spiel. Meine wichtigsten Gesprächspartner waren zuletzt die Außenminister der Nachbarstaaten – von Prag bis Rom. Gerade in der Krise hat sich gezeigt, dass Österreich ein eigenständiges Vertretungsnetz braucht. Wer hat die Österreicher zurückgeholt, wer hat die Exportgenehmigung in China an Land gezogen? Unsere Botschaften!
Sehen Sie das Vertretungsnetz in Gefahr? Angesichts der Ausgabenflut wird der Spardruck auf den Staat bald enorm sein. Botschaften sind kein Luxus. Wenn es hart auf hart kommt, sind sie eine Lebensversicherung für die Österreicher im Ausland.
Sie erwähnten Rom. Italien fühlt sich von Österreich im Stich gelassen, auch in der Debatte um den Wiederaufbaufonds.
Es läuft ein normaler europäischer Verhandlungsprozess. Frankreich und Deutschland haben einen Vorschlag unterbreitet, Italien will mehr, die Sparsamen Vier mit Österreich wollen nicht die Tür Richtung Transfer- und Schuldenunion öffnen. Bei diesen Summen ist es doch legitim, dass wir verhandeln. Wir alle möchten helfen. Keiner will, dass ein Staat ins Trudeln kommt und die Eurozone gefährdet ist. Es geht nicht um das Ob, sondern um das Wie.
Ex-Kanzler Christian Kern hat kritisiert, dass die Bundesregierung in dieser Schicksalsfrage für die EU zu kleinkariert denkt. Hat er einen Punkt?
Dieses Narrativ, dass die Sparsamen Vier – Niederlande, Schweden, Dänemark, Österreich – die schlechten Europäer sind, lehne ich ab. Sollen nur jene, die mit beiden Händen in die Kasse greifen, die guten Europäer sein? Das ist völlig absurd.
Österreich umgarnt die Großmächte. Will es Äquidistanz zu Russland, China und den USA halten?
Nein. Wir haben mit den USA eine Lebensmodellgemeinschaft, auch wenn wir den Rückzug der USA aus dem Pariser Klimaabkommen, der WHO und Abrüstungsverträgen nicht begrüßen. Die westliche Welt tut gut daran, diese Gemeinsamkeiten nicht kleinzureden, sondern wahrzunehmen.
Russland hat offenbar das Außenamt in Wien gehackt. Warum kuscht Österreich? Es gibt starke Indizien, die in eine Richtung weisen, aber keine Beweise.