MS schleicht sich ins Leben
Anlässlich des heutigen Welt-MS-Tags: ein Einblick in die Probleme von Betroffenen, Angehörigen und in Strategien zur Bewältigung der Herausforderung MS.
Christina Greinmeister ging noch in die Volksschule, als bei ihrer Mutter 1999 Multiple Sklerose diagnostiziert wurde – nach fünf Jahren ohne klaren Befund, weil man ihr damals Angst vor einer Rückenmarkpunktion gemacht hatte. Als er endlich da war, hinterfragte das die Tochter nicht, „doch mir fiel auf, dass sie mit mir nicht mehr basteln konnte aufgrund des Taubheitsgefühls in den Armen“. Mit 49 Jahren sei die Diagnose relativ spät im Leben gekommen, weshalb es inzwischen schwierig sei, die altersgemäßen Schwächen und die Folgen der MS zu trennen. „Gemerkt haben wir es daran, dass sie weniger lang Ski fahren, weniger weit gehen konnte.“Inzwischen fährt die Mutter zwar mit in den Skiurlaub, bleibt aber der Piste fern. Und weite Gehstrecken bewältigt sie im Rollstuhl.
Verschiedene Gesichter
MS zeigt sich in sehr unterschiedlichen Verläufen und Symptomen. „Auch Menschen mit schwereren Verläufen lernen, ihren Alltag an ihre Möglichkeiten anzupassen und finden einen Weg, Lebensqualität zu erhalten“, sagt Julia Asimakis, Psychotherapeutin bei der Multiple-Sklerose-Gesellschaft Wien. Je nach Verlauf der MS könnten Einschränkungen in der Bewegung, in der Seh- und Sprachfähigkeit sowie Störungen der Blase, des Darms und des Gedächtnisses auftreten.
Mit fortschreitender Krankheit werde der Radius immer kleiner, sagt Helga Riedmann. Sie leitet die MS-Selbsthilfegruppe Rheintal. Zu Beginn der Erkrankung seien die meisten Alltagsverrichtungen noch möglich, dann schleicht sich MS ins Leben: „Das Gehen wird spastisch, das Gleichgewicht kann sich vermindern. Die meisten haben schon bald mit Harninkontinenz zu tun. Auch das Gegenteil, nämlich Harnverhalt, kommt vor“, erzählt die 66-Jährige. Sie selbst hat seit 25 Jahren MS. Drei Jahre lang konnte sie noch alles machen − Rennrad fahren, langlaufen, joggen. Nach mehreren Schüben ging nichts von dem mehr. „Heute sitze ich im Rollstuhl, und an guten Tagen kann ich mich mithilfe des Rollators vom Bett zum Küchentisch und zum WC bewegen.“Ihr 76-jähriger Mann sei „mitgefangen“. „Er kann mich nicht länger als drei Stunden allein lassen und macht die gesamte Hausarbeit.“
Angehörige mitbetroffen
Die Krankheit betreffe immer die ganze Familie, sagt Psychotherapeutin Asimakis: „Die Gesundheit und das Wohlbefinden der Angehörigen können somit durch die Erkrankung gefährdet sein. Hinzu kommt, dass jeder Mensch unterschiedliche Bewältigungsstrategien hat.“Wichtig sei, ein Gleichgewicht zu finden zwischen Unterstützung und Begleitung des Betroffenen, der Möglichkeit für Betroffene, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, und für Angehörige, selbst gut auf sich zu schauen. „Erfolgreiche Krankheitsbewältigung gelingt jenen Menschen besser, die gelernt haben, Probleme und Sorgen gemeinsam zu besprechen.“
Manuela Lanzinger kann ohne Anhalten nicht frei stehen, einen Wasserkocher zu befüllen ist eine Herausforderung für sie. „Ich muss meine Energie genau einteilen und darf nicht über meine Grenzen gehen. Dann komme ich im Alltag besser klar. Ich muss für Routinetätigkeiten wie Anziehen oder Duschen mehr Zeit und mehr Kraft aufwenden.“Womit man Riedmann als auch Lanzinger treffen kann, ist die Aussage, dass „man eh gut ausschaue“: „Das kann ich nicht leiden. Denn mein Gesundheitszustand zeigt sich nicht in meinem Gesicht“, ärgert sich Lanzinger. Die Leute reagierten auf die Aussage eigenartig, dass MS eine neurologische Krankheit ist. Viele verwechselten neurologisch mit psychisch und müssten aufgeklärt werden, dass MS nichts mit Muskelschwund zu tun habe.
Selbstbestimmung erhalten
Für sie als Tochter war das Wichtigste im Umgang mit ihrer Mutter, „dass ich meine Mama nach wie vor für voll nehmen kann“, sagt Greinmeister. Ganz wichtig sei es laut Asimakis deshalb, dass Erkrankte nach wie vor eigene Entscheidungen treffen können, und das Gefühl zu haben, Einfluss nehmen zu können. „Einen Blick für Perspektiven zu entwickeln und gut Grenzen setzen zu können, gehört ebenso dazu wie belastenden Gefühlen Raum zu geben und Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn man gerade nicht mehr weiter weiß.“