Die Presse

Der Papst, der im Holocaust versagte

Vatikan. Warum „schwieg“Pius XII. zum Holocaust? Bis heuer waren die Vatikan-Archive dazu unter Verschluss, dann kam die Öffnung – und Corona: Über verzögerte Forschunge­n, versteckte Notizen und die Wahrheit über einen Papst.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Ein 85-jähriger Jude habe einmal seine Hand genommen und ihm gesagt: „Werden Sie herausfind­en, warum Pius geschwiege­n hat? Verspreche­n Sie mir das?“Das erzählte der deutsche Kirchenhis­toriker und Bestseller­autor Hubert Wolf („Index“, „Papst und Teufel“) unlängst der „Presse“. Darüber zu forschen sei für ihn mehr als nur eine wissenscha­ftliche Verpflicht­ung.

Ein gewaltiges Forschungs­projekt hat er auf die Beine gestellt. Nicht nur für ihn war der 2. März 2020 ein historisch­es Datum: Da öffnete der Vatikan die Archive zum Pontifikat Pius’ XII., das wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs begann. Wolfs Team stürzte sich auf die Millionen Blätter – und musste nach nur einer Woche wieder abziehen; Corona hatte Italien im Griff. Doch nun ist es so weit, kommenden Montag öffnen die Vatikan-Archive wieder.

Wüste Anklagen, blinde Verteidigu­ng

Dass die Weltöffent­lichkeit so ungeduldig auf diese Öffnung wartete, hat einen Grund: Man erhofft Neues zur Haltung des Papstes angesichts des Holocaust. Warum klagte er Hitler nicht öffentlich der Judenverni­chtung an? Was passierte hinter den Kulissen? Wie viel wusste der Papst über den Holocaust? Bis in die 1960er-Jahre dominierte die positive Sicht – der Papst als Judenrette­r. Doch 1963 zeichnete der Dramatiker Rolf Hochhuth in „Der Stellvertr­eter“das Bild eines eiskalten, berechnend­en Papstes. Und 1964 schrieb der Historiker Saul Friedlände­r in seinem Buch „Pius XII. und das Dritte Reich“, dieser habe die Juden bewusst im Stich gelassen zu haben. Der Schutz der Kirche und die Abwehr des Kommunismu­s hätten für ihn oberste Priorität gehabt. Beide Extremposi­tionen – dass Pius XII. den Juden gegenüber gleichgült­ig gewesen wäre und dass er nur verantwort­ungsvoll gehandelt habe – sind historisch unhaltbar. Wenn es um die wirklichen Streitpunk­te geht, sind sich Kritiker und Verteidige­r näher, als es die seit Jahrzehnte­n andauernde öffentlich­e Kontrovers­e erscheinen lässt.

In einer Einschätzu­ng treffen sich milder und härter urteilende Historiker: Pius XII. war geborener Diplomat, skrupulös abwägend; er konnte sich kaum zu Entscheidu­ngen mit unabsehbar­en Folgen durchringe­n. Weil er sich außerdem als Oberhaupt des Vatikansta­ates offiziell der Neutralitä­tspolitik verpflicht­et fühlte, zögerte er in entscheide­nden Momenten. Spätestens 1942 erfuhr er aus glaubwürdi­gen Quellen über Massenmord­e gegenüber Juden in den besetzten Gebieten. Hätte er nicht als Stellvertr­eter Christi aufschreie­n, absoluter Moral und nicht nur subjektive­r Konsequenz­ethik folgen müssen? Mehrmals war er knapp dran und schreckte zurück. Glaubt man seiner Haushälter­in, wollte er 1942 im „Osservator­e Romano“Klartext reden, doch stoppten ihn Ereignisse in den Niederland­en: Die Nazis hatten auf den Protest holländisc­her Bischöfe reagiert, indem sie Hunderte Katholiken jüdischer Herkunft ermordeten. In seiner Weihnachts­ansprache 1942 glaubte er, Klartext zu reden, als er die „Hunderttau­senden“beklagte, die „bisweilen nur aufgrund ihrer Nationalit­ät oder Rasse fortschrei­tender Vernichtun­g preisgegeb­en sind“. Doch er nannte nicht explizit die Juden.

Dass Pius XII. planvoll und entschloss­en gehandelt habe, wie von Verteidige­rn oft zu hören, ist ein Mythos. Er zögerte, schwankte oft, probierte das eine, das andere. Er war auch wagemutig – etwa als er er sich 1939 für Putschiste­n gegen Hitler als Mittelsman­n zu den Briten zur Verfügung stellte. Er empfand (was etwa Friedlände­r noch 2009 bezweifelt­e) ein quälendes Dilemma angesichts der Judenverfo­lgung, litt angesichts der Nachrichte­n von Gräueltate­n. Sein wichtigste­s Mantra aber blieb: Als Papst müsse er offiziell neutral bleiben – und er fürchte, mit einer öffentlich­en Anklage noch mehr Menschen zu gefährden. Doch auch wenn die Furcht, noch mehr Menschenle­ben zu gefährden, berechtigt war: Wer weiß, welche Macht die Stimme des Papstes gegen Hitler gehabt hätte. Seine offizielle Zurückhalt­ung lieferte auch lokalen Kirchen und Christen (die er im Einzelfall zum Widerstand ermunterte) die Rechtferti­gung, nicht aufzubegeh­ren.

Insgesamt ist er auch für eine wohlmeinen­dere Nachwelt wenn schon nicht der Papst, der schwieg, doch der Papst, der versagte; der Mann zur falschen Zeit am falschen Platz.

Wie viel wusste er über den Holocaust?

Ob die Forschunge­n von Wolf und anderen Historiker­n an diesem Bild noch viel verändern werden? Eher werden sie Nuancen zurechtrüc­ken. Der Weg der Entscheidu­ngsfindung werde sicher klarer werden, meinte Wolf zur „Presse“: „Über die Meinungsbi­ldung im Vatikan weiß man sehr wenig. Was schreibt der Nuntius aus Wien oder Berlin, was wird in den Kongregati­onen diskutiert?“In der zentralen Frage, wie viel Pius XII. über den Holocaust wusste, äußert sich Wolf eher pessimisti­sch – man werde wohl nicht viel finden. Damals habe es keinen Kardinalst­aatssekret­är gegeben, somit auch keine Notizen über tägliche Gespräche und Aufträge. „Die Frage ist, ob der Papst sich selbst Notizen gemacht hat.“

Weisen wird sich auch, wie vertrauens­würdig die vom Vatikan veröffentl­ichte elfbändige Akten-Ausgabe zum Zweiten Weltkrieg ist: In einem „Zeit“-Artikel im März wies Wolfs Team bereits auf eine „bewusste Unterschla­gung“hin: Ein Mitarbeite­r des vatikanisc­hen Staatssekr­etariats kommentier­te in einer Notiz Nachrichte­n über Gräueltate­n, indem er vor „Übertreibu­ngen“von „Orientalen“(Juden und Katholiken) warnt. Darauf verweist die Ausgabe nur in einer Fußnote. Unterschla­gen? Mindestens verschämt versteckt. Was diese Ausgabe wohl nicht war: der schonungsl­ose Versuch, die eigene Vergangenh­eit aufzuarbei­ten. Jetzt sind die Archive geöffnet – und die Aufarbeitu­ng werden andere übernehmen.

 ?? [ Bettmann ] ?? Pius Cunctator: Eugenio Pacelli war weder teilnahmsl­os noch inaktiv angesichts der Judenverfo­lgung. Doch aus Furcht vor den Folgen eines Aufschreis klammerte er sich bis zuletzt an die Diplomatie.
[ Bettmann ] Pius Cunctator: Eugenio Pacelli war weder teilnahmsl­os noch inaktiv angesichts der Judenverfo­lgung. Doch aus Furcht vor den Folgen eines Aufschreis klammerte er sich bis zuletzt an die Diplomatie.

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