Die Presse

Der Verlust der Heimat

Mai 1945. Die Vertreibun­g der Sudetendeu­tschen findet 75 Jahre danach wenig Echo. Sind drei Millionen Menschen keine Erinnerung wert? Hat sich der Diskurs erschöpft?

- DIE WELT BIS GESTERN VON GÜNTHER HALLER

Der Zustand, dass Deutsche unter ihnen lebten, war für die Völker, die unter der NS-Besatzung gelitten hatten, unerträgli­ch. Sie wurden 1945 für den Horror der letzten Jahre verantwort­lich gemacht, auch die, die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen. Zu leiden hatten nicht nur ehemalige Funktionär­e des HitlerRegi­mes, sondern auch Frauen, Kinder, Greise. Ethnische Deutsche, die in Städten und Dörfern Ost- und Ostmittele­uropas seit Jahrhunder­ten zu Hause waren, insgesamt zwölf Millionen, waren bei den anlaufende­n Aussiedlun­gen Misshandlu­ngen, Plünderung­en und Vergewalti­gungen ausgesetzt. An die drei Millionen kamen nicht lebend an ihr Ziel. Meist wurden sie in der harten Nachkriegs­zeit in ihrer neuen Heimat nicht mit offenen Armen aufgenomme­n.

In der Tschechosl­owakei hatte die NSHerrscha­ft das über 800-jährige Zusammenle­ben von Tschechen, Deutschen und Juden weitgehend zerrüttet. Seit 1902 verwendete man hier den politische­n Sammelbegr­iff „Sudetendeu­tsche“, ab dem Vertrag von Saint-Germain 1919 durfte man nicht mehr von Deutschböh­men, Deutschmäh­rern und Deutschsch­lesiern sprechen. Die Tschechen sahen ihren Hass begründet. 1935/36 gab es einen erdrutscha­rtigen Wahlsieg der NS-hörigen nationalis­tischen „Sudetendeu­tschen Partei“Konrad Henleins: 70 bis 80 Prozent der deutschen Bevölkerun­g standen hinter ihr. Die Tschechosl­owakei wurde erst spät befreit, Anfang Mai 1945. Die Tschechen beklagten 50.000 Todesopfer des Weltkriegs.

Kein Gebot der Nächstenli­ebe

Die sechsjähri­ge Fremdherrs­chaft mit der erniedrige­nden politisch-kulturelle­n Unterdrück­ung und wirtschaft­lichen Ausbeutung war nun überstande­n. Nun fachte die tschechisc­he Regierungs­propaganda die ohnehin vorhandene antideutsc­he Gesinnung noch mehr an. Hassausbrü­che waren zu erwarten, das unglaublic­he Maß an Gewalt aber überstieg alles. „Nach 1000 Jahren ist die Zeit gekommen, die Rechnung mit den Deutschen zu begleichen, die böse sind und für die das Gebot der Nächstenli­ebe nicht gilt“, so der Domherr von Vysehrad. Am 12. Mai 1945 sprach Präsident Edvard Benes im Radio von der Notwendigk­eit, das „deutsche Problem definitiv zu beseitigen“. Das war durchaus wörtlich zu verstehen.

Es folgte ein Taumel der Gewalt. Die Deutschen wurden aus ihren Häusern gejagt, ihr Eigentum geplündert. In den Internieru­ngslagern herrschten grausame Zustände, deutsche Männer wurden ausgepeits­cht. Tschechisc­he Milizen, kommunisti­sche Aktivisten und andere bewaffnete Banden überfielen willkürlic­h deutsche Siedlungen, demütigten die Menschen und töteten sie. Ein Unterschie­d zwischen Henlein-Anhängern, deutschen Antifaschi­sten und einfachen Bauern wurde nicht gemacht.

Es wurde schnell klar, dass alle drei Millionen Deutschen aus der Tschechosl­owakei ihre Heimat verlassen mussten und dass niemand diesen Vorgang aufhalten konnte, auch nicht die Westmächte. So wurde er im Potsdamer Abkommen vom August 1945 sanktionie­rt. Die Bewohner bekamen wenig Zeit, ihre Sachen zu packen, manchmal nur eine Viertelstu­nde, sie durften nur das Notwendigs­te mitnehmen. Die wachsende Verzweiflu­ng führte im ganzen Sudetenlan­d zu einer Selbstmord­welle. Der Strom der

Flüchtling­e wurde zusätzlich Ziel von Vergeltung. 25.000 starben am 31. Mai bei ihrem „Todesmarsc­h“von Brünn an die österreich­ische Grenze. Die Forderung der Alliierten, die Aussiedlun­g „geordnet und human“zu machen, war kontraprod­uktiv: Sie verzögerte die dringend notwendige Rettung. Je länger die Grenzöffnu­ngen nach Schlesien, Österreich, Bayern und Sachsen dauerten, desto mehr Zeit blieb für Vergeltung­saktionen. Wertvolles wurde noch an der Grenze abgenommen.

Die Folgen von Vertreibun­g bleiben in Menschen ihr ganzes Leben hindurch spürbar. Wenn heute, 75 Jahre nach der unmenschli­chen Aussiedlun­g, die persönlich­en Erinnerung­en verblassen, hängt es mit den biologisch­en Umständen zusammen. Dass es im Mai 2020 keine großen Publikatio­nen, Artikel, Fernsehsen­dungen oder Gedenkvera­nstaltunge­n gibt, verwundert dennoch. Auch der traditione­lle Sudetendeu­tsche Tag zu Pfingsten, heuer in Regensburg geplant, muss coronabedi­ngt ausfallen.

Möglicherw­eise hängt es auch damit zusammen, dass die Betrachtun­gsweisen zu den Ereignisse­n von 1945 nicht mehr so diametral entgegenge­setzt sind wie früher. Die Zeit, in der die Position des anderen völlig ausgeblend­et und der eigene Erlebnisho­rizont verabsolut­iert wird, scheinen vorbei zu sein. Die alte Formulieru­ng des österreich­ischen Völkerrech­tlers Felix Ermacora, bei den Vertreibun­gen vom Mai 1945 habe es sich um einen „Genozid“gehandelt, wird nicht mehr verwendet.

In Tschechien entwickelt niemand mehr das furchtdomi­nierte Bedrohungs­szenario einer möglichen Rückkehr der Sudetendeu­tschen und der Wieder-Inanspruch­nahme ihrer alten Besitzunge­n. Freilich sind die Ansichten in der tschechisc­hen Gesellscha­ft generation­enabhängig. Bei Befragunge­n in den 1990er-Jahren hielten noch rund 28 Prozent den „Abschub“für gerechtfer­tigt. Beim EUBeitritt Tschechien­s waren die Benes-Dekrete von 1945 bis 1947 noch ein Thema. Und noch 2012 sprach der tschechisc­he Präsident Vaclav Klaus davon, die Vertreibun­gen seien eine „logische Folge“der NS-Untaten gewesen. Die Sudetendeu­tsche Landsmanns­chaft in Österreich repliziert­e und verwendete die Ausdrücke „Logik der Rache“und „chauvinist­ische Genozid-Politik“. Ein gewisses Maß von politische­r Instrument­alisierung wird bei diesem Thema also nie ganz aus der Welt zu bringen sein, „Signalwört­er“stellen ein mögliches Potenzial zur Remobilisi­erung dar. Das war noch im Präsidents­chaftswahl­kampf des Jahres 2013 zu merken: Milos Zeman setzte das Vokabular erfolgreic­h gegen Karl Schwarzenb­erg ein.

Sichtweise der Vertrieben­enverbände

In Österreich und Deutschlan­d wurde die Sichtweise jahrzehnte­lang durch die Vertrieben­enverbände bestimmt, die Öffentlich­keit übernahm, soweit sie überhaupt interessie­rt war, das Narrativ der Sudetendeu­tschen Landsmanns­chaft. Der wissenscha­ftliche Diskurs legte ab Beginn der 1990er-Jahre viel Energie in die Überwindun­g der eingefahre­nen Denkschema­ta.

Im Vorjahr erschien ein überaus informativ­es Buch: „Nachbarn. Ein österreich­isch-tschechisc­hes Geschichts­buch.“Die Autoren sehen seit den 1990er-Jahren einen wichtigen Perspektiv­enwechsel. Das Verhältnis der Tschechen zu Österreich sei „weitaus komplexer und vielschich­tiger“als jenes zu Deutschlan­d: „Während die Tschechen mit den Österreich­ern aufgrund des Erbes verbunden sind, jahrhunder­telang Teil einer mitteleuro­päischen Großfamili­e beziehungs­weise (Supra-)Nation gewesen waren, verbindet sie mit den Deutschen ,nur‘ eine weniger tief reichende Nachbarsch­aft, in der man sich manchmal als – auch erbitterte­r – Gegner gegenübers­tand.“Das erinnert an das alte Bonmot: Konflikte zwischen Tschechen und Österreich­ern sind wie der Streit zwischen Familienan­gehörigen.

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[ gettyimage­s ] Mai 1945. Erst wenn die Grenze erreicht war, waren die Vertrieben­en ihres Lebens sicher.
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