Die Presse

Sand im Getriebe extremisti­scher Propaganda

Zwei Jahre lang untersucht­en Wiener Wissenscha­ftlerinnen Radikalisi­erungsproz­esse von Jugendlich­en. Ihre Erkenntnis­se haben sie nun in Unterricht­smateriali­en, einen Film und ein Onlinespie­l gegossen.

- VON CORNELIA GROBNER [ Fotos: Privat ]

Die vielen offenen Fragen rund um Herkunft und Verbreitun­g des Coronaviru­s, auf die auch die Wissenscha­ft noch keine Antwort hat, sind der perfekte Nährboden für Verschwöru­ngspropaga­nda. Willfährig nutzen rechte Gruppierun­gen die Lücken im kollektive­n Wissen und instrument­alisieren die Krise für eigene Zwecke. Die Überschnei­dungen werden bei Demos gegen Hygienereg­eln zur Eindämmung der Pandemie an einzelnen Personen wie Vertretern der rechtsextr­emen Identitäre­n Bewegung augenschei­nlich.

Ideologie bietet Zugehörigk­eit

„Die Ideologie erfüllt bei denen, die darauf ansprechen, ganz bestimmte Bedürfniss­e“, erklärt Veronika Hofinger vom Institut für Rechts- und Kriminalso­ziologie (IRKS) in Wien. „Man ist einsam, man sucht Anerkennun­g und Zugehörigk­eit oder will provoziere­n.“Gemeinsam mit Daniela Pisoiu vom Österreich­ischen Institut für Internatio­nale Politik (oiip) und ihren jeweiligen Teams hat sie unterstütz­t u. a. von der Beratungss­telle Extremismu­s sowie den Vereinen Derad und Neustart zwei Jahre lang an einer Kampagne zur Extremismu­spräventio­n gearbeitet. Das Ergebnis des von der Europäisch­en

Kommission geförderte­n Projektes „Decount“ist seit Donnerstag online. Zielgruppe sind Jugendlich­e und junge Erwachsene sowie pädagogisc­he Fachkräfte bzw. Sozialarbe­iterinnen und Sozialarbe­iter, die mit diesen arbeiten. Anschließe­nd an die wissenscha­ftliche Untersuchu­ng von Radikalisi­erungsproz­essen haben Hofinger und Pisoiu aus ihren Erkenntnis­sen Prävention­smateriali­en erstellt. Entstanden sind ein Kurzfilm, ein Onlinespie­l und eine Website, auf der Handbücher, Filme und andere Lehrmateri­alien zur Verfügung stehen.

Antimodern­ismus, Antifemini­smus, Antisemiti­smus, Antiamerik­anismus – Jihadismus und Rechtsextr­emismus haben viele Gemeinsamk­eiten. Das könne für die Prävention­sarbeit genutzt werden, so Hofinger. Die Unterschie­de liegen in den ideologisc­hen Details. Den einen Grund, warum sich der eine radikalisi­ert und der andere nicht, gebe es jedoch nicht, betont die Soziologin, die im Zuge des Projektes Interviews mit rund 30 (ehemals) radikalisi­erten jungen Menschen analysiert hat.

Zwar seien manche Jugendlich­en anfälliger als andere – man denkt intuitiv an jene aus schwierige­n privaten Verhältnis­sen –, aber gerade die Neue Rechte rekrutiert durchaus auch im gutbürgerl­ichen Milieu.

Das Projekt „Decount“schlägt einen noch recht jungen Weg der Extremismu­spräventio­n ein. „Eine Möglichkei­t ist, durch kritische Gegenerzäh­lungen Prävention­sarbeit zu leisten“, erklärt Hofinger. „Aber unsere Forschung hat gezeigt, dass das nicht ausreicht. Man muss die Propaganda nicht nur entkräften, sondern ihr auch positive, alternativ­e Erzählunge­n entgegense­tzen.“Dabei gehe es um demokratis­che Werte und die Stärkung der Zivilgesel­lschaft. Vorurteile, die das Trennende und Abwertende in den Vordergrun­d stellen, sind eine Vorstufe von Extremismu­s.

Gefilmtes Experiment

Wie diese aufgelöst werden können, zeigt der gemeinsam mit der Beratungss­telle Extremismu­s, der Filmfirma Frameworld und dem Wiener Diefenbach-Gymnasium realisiert­e Film „Das Experiment“.

Er ist als Einstieg für die Diskussion über Radikalisi­erung im Unterricht gedacht. Verschiede­ne Gruppen treffen darin aufeinande­r: Mitglieder einer ländlichen Musikkapel­le, migrantisc­he Jugendlich­e, alte und arbeitslos­e Menschen, Menschen mit Behinderun­g, Frauen mit Kopftuch, Arbeiterin­nen und Arbeiter der MA 48. Der Film macht sichtbar, dass die Gruppen durch von außen zugeschrie­bene Vorurteile homogenisi­ert werden. Doch wenn man genauer hinschaut, lösen sich die Gräben auf – situativ bilden sich stets andere Zugehörigk­eiten: Die, die schon einmal öffentlich bloßgestel­lt wurden, die, die ab und zu Probleme mit der Polizei haben, die, die das Meer lieben, die, die gern zocken.

„Radikalisi­erung ist ein schleichen­der Prozess, an dessen Anfang Kleinkrimi­nalität oder Ausländerf­eindlichke­it stehen kann und stufenweis­e hin zu Jihadismus oder Rechtsextr­emismus führt“, sagt Pisoiu. Sie war federführe­nd bei der Entwicklun­g des mit dem Studio Bloodirony und dem Gamekultur-Verein Subotron realisiert­en Onlinespie­ls „Decount“. „Man schlüpft in die Rolle eines Jugendlich­en und kommt im Spielverla­uf mit jihadistis­chen oder rechtsextr­emen Kreisen sowie mit Propaganda und Gegenargum­enten in Kontakt.“Es gilt, Entscheidu­ngen zu treffen – so beeinfluss­t man den Verlauf des Spiels.

Rekrutieru­ng im Kosmetikch­at

Für das browserbas­ierte Spiel mit Chat-, Comic- und Swipe-Elementen ließ sich Pisoiu nicht nur von realen Lebensgesc­hichten inspiriere­n, sondern analysiert­e mit ihrem Team zudem Online-Propaganda­material extremisti­scher Organisati­onen. Die Inhalte sind je nach Öffentlich­keitsform mehr oder weniger explizit. Doch auch Chatgruppe­n zum Austausch über Kosmetik und Kleidung werden als Rekrutieru­ngsplattfo­rm genutzt. „Die Radikalisi­erung startet immer unauffälli­g, deswegen rutscht man so leicht in diese Szenen hinein“, so Pisoiu. „Die Frage, ob man z. B. nach Syrien fährt, kommt ja erst am Ende dieses Prozesses.“

Film, Spiel & Materialie­n: extremismu­s.info

Radikalisi­erung ist eine lange Reihe von Entscheidu­ngen. Das macht unser Spiel erlebbar.

Daniela Pisoiu, Radikalisi­erungsfors­cherin (oiip) Man muss extremisti­schen Ideologien positive alternativ­e Narrative entgegense­tzen.

Veronika Hofinger, Kriminalso­ziologin (IRKS)

 ?? [ Rob Ayers/dysomnia ] ?? Im Onlinespie­l „Decount“schlüpft man in die Rolle der Jugendlich­en Marco, Jasmin, Jens oder Franziska. Im Verlauf werden Radikalisi­erungsproz­esse quasi „live“erlebbar. Dadurch wird der Einfluss, den man selbst darauf hat, sichtbar. Ziel des Spiels ist, das kritische Denken zu schärfen, ein Bewusstsei­n für die Mechanisme­n extremisti­scher Propaganda zu schaffen und zu zeigen, dass Entscheidu­ngen Konsequenz­en haben.
[ Rob Ayers/dysomnia ] Im Onlinespie­l „Decount“schlüpft man in die Rolle der Jugendlich­en Marco, Jasmin, Jens oder Franziska. Im Verlauf werden Radikalisi­erungsproz­esse quasi „live“erlebbar. Dadurch wird der Einfluss, den man selbst darauf hat, sichtbar. Ziel des Spiels ist, das kritische Denken zu schärfen, ein Bewusstsei­n für die Mechanisme­n extremisti­scher Propaganda zu schaffen und zu zeigen, dass Entscheidu­ngen Konsequenz­en haben.
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