Das Regelwerk der Abwehrkräfte
Die angeborene Immunität erkennt mit nur wenigen Rezeptoren eine breite Palette an Gefahren. Ein bisher unbekannter Teil dieses Systems wurde nun in Wien entdeckt.
Die Welt setzt ihre Hoffnungen derzeit auf das erworbene Immunsystem. Sobald es eine Impfung gegen das Coronavirus gibt, wird es seine Arbeit verrichten, die eingeschleusten Teile des Virus erkennen, eine Armada an hoch spezialisierten Zellen und Antikörpern dagegen bilden und sich bestenfalls den Krankheitserreger über viele Jahre hinweg merken.
Weniger im Fokus der medialen Aufmerksamkeit vollbringen andere Teile der Immunabwehr Leistungen, die nicht minder lebenswichtig sind. Das angeborene Immunsystem ist stets an vorderster Front, hat die erste Berührung mit eindringenden Mikroben und muss in Windeseile weitreichende Entscheidungen treffen: Wer ist der Eindringling, wie gefährlich ist er und wie stark soll meine Reaktion dagegen ausfallen?
Unbekannte Angreifer
„Die angeborene Immunität ist evolutionär gesehen sehr alt“, erklärt Giulio Superti-Furga, Direktor des Cemm, des Forschungszentrums für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. „Denn jeder Organismus muss Attacken aus seiner Umwelt überleben. Auch im Menschen gibt es viele Komponenten, die man zur angeborenen Immunität zählt. Angefangen bei physikalischen Barrieren wie der Haut und den Epithelien bis hin zu spezialisierten Akteuren wie dendritischen Zellen oder Makrophagen. Sie müssen für Sicherheit sorgen, aber – im Gegensatz zur erworbenen Immunität – ohne den Angreifer zu kennen.“
Das wird mit einer bemerkenswerten Effizienz erledigt: Während mit den Antikörpern jeder Krankheitserreger seine ganz persönliche Abwehrwaffe verpasst bekommt, muss die angeborene Immunität mit nur wenigen Erkennungsmechanismen eine riesige Zahl unterschiedlichster Angreifer wahrnehmen, die Bedrohung für den Organismus einordnen und entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten – oder auch nicht.
Und das auch immer unter Berücksichtigung der örtlichen Begebenheiten, denn dasselbe molekulare Muster, etwa von freien DNAStücken, kann an einer Stelle im Körper eine Immunreaktion auslösen, weil es ein Zeichen für eine Infektion oder beschädigte Zellen ist, an anderer Stelle, etwa in den Zellkernen, löst die DNA nichts aus – denn dort gehört das Erbgut bei einem gesunden Menschen ja auch hin. „Das ist eine logistische Herausforderung, die mit nur wenigen Dutzend unterschiedlicher Rezeptoren gestemmt werden muss“, so Superti-Furga. „Wie das funktioniert, hat man noch nicht in jedem Detail verstanden, aber wir wissen, dass es durch die Kombination verschiedener Komponenten geschieht.“
Signal durch DNA-Schnipsel
Eine solche Komponente, ohne die ein Teil dieses fein abgestimmten Regelwerks nicht funktionieren könnte, hat die Forschungsgruppe des Molekularbiologen kürzlich entdeckt ( Nature 581, S. 316–322): das Protein Tasl. Es ermöglicht die Reaktion des angeborenen Immunsystems auf freie (hauptsächlich von Viren stammende) DNA, indem es den Rezeptor, der die Erbgutschnipsel erkennt, mit dem Protein, das letztlich die Immunantwort einleitet, in Verbindung bringt.
Dabei kommt Tasl auch die Rolle des Schiedsrichters zu: Erst wenn die Bedrohung wirklich ernst genug – sprich: die Menge an Erbgutschnipseln groß genug – ist, wird das Signal der Rezeptoren durchgelassen, und es werden Abwehrmaßnahmen getroffen. Diese bergen nämlich auch immer das Risiko von Kollateralschäden, vor allem, wenn sie aus den Fugen geraten. Solche Überreaktionen sind beispielsweise die sogenannten Zytokinstürme, die bei vielen Covid-19-Patienten auftreten und tödlich enden können.
Wie wichtig Tasl ist, wird aber am deutlichsten, wenn es nicht mehr richtig funktioniert, betont Superti-Furga: „Wenn Tasl ,falschen Alarm‘ gibt, kommt es zu einer sterilen Infektion, also zur Ausschüttung von Zytokinen (s. Lexikon, Anm.), ohne dass ein Krankheitserreger anwesend ist. Das ist typisch für Autoimmunerkrankungen, in diesem Fall für Lupus erythematodes, der Schmetterlingsflechte.“Die Studie seines Teams, an der auch der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim beteiligt war, konnte nun den molekularen Mechanismus aufklären, der dieser Erkrankung zugrunde liegt. Nun soll nach Wirkstoffen gefahndet werden, mit denen man Tasl regulieren kann.