Den Kasperl machen
Briefe an Amalia: Dein erstes Wort – und Veränderungen in der Corona-Krisenwelt.
Vorgestern schnallte ich Dich erstmals seit Monaten nach dem Aufwachen nicht vor meine Brust, um zu unserem allmorgendlichen Spaziergang aufzubrechen. Zehn Kilometer haben wir Tag für Tag zurückgelegt, vormittags und nachmittags, manchmal in Begleitung, meistens allein, um uns genau anzusehen, was sich geändert hat in der Corona-Krisenwelt – und was nicht. An diesem Morgen aber fuhren wir zum Hauptbahnhof. Es regnete leise, die Luft war frisch, der Bahnhof verwaist. Deine Mutter und Du nahmen im Kinderabteil mit den lustig gemalten Tieren an den Wänden Platz. Dann stand ich am Bahnsteig, mein Gesicht mit der Maske spiegelte sich im Fenster, hinter dem Du wild zu winken und hüpfen begannst und mich anstrahltest. Noch einmal machte ich den Kasperl für Dich: Ich ging in die Hocke, um kurz darauf wieder in Deinem Blickfeld aufzutauchen, auf und ab zu Deinem Gaudium. Auf einmal hattest Du eine Rassel in der Hand, winktest mit der einen und rasseltest mit der anderen. Es war zum Lachen und Weinen. Dann fuhr der Zug nach Berlin ab.
Wie still es nun in der Wohnung ist. Dein Lieblingsteddybär sitzt auf den Korrekturfahnen meines neuen Romans, zurückgelehnt auf dem Tisch, der Bauch rund, hinter ihm liegt eine Atemschutzmaske. Dein Spielzeug und Deine Bücher sind in den beiden grauen Kistchen verstaut, der Stuhl, in dem Du ohnehin nicht gern beim Essen sitzt, lehnt an der Wand. Deine Strampler habe ich zusammengelegt, Strumpfhosen und Lätzchen einsortiert. Auf der Kommode steht ein wunderbares Bild von Hubert Scheibl, das er Dir zu meinem ersten Geburtstag mit Kind geschenkt hat – „Für Amalia Maria, die am 15.8.2019 mit 48 cm und 2,9 Kilo um 0:50 auf dem Planeten Erde gelandet ist. Love, Hubert“steht auf der Rückseite. Daneben ist eine 48 Zentimeter lange Linie eingezeichnet. An ihr werden wir in Zukunft Dein Wachstum messen.
Etwas wie Mama ist aufgetaucht
In den Tagen vor Eurer Abfahrt hast Du Laute zu bilden begonnen, die anders und stärker nach Worten klingen – als wäre jetzt die Zeit gekommen, uns Wichtiges anders als durch Schreien, Lachen oder Zeigen mitzuteilen. Ein Wort, das erste, das wir so bezeichneten, führst Du seit Monaten im Mund. Es hängt eng mit Deiner Schnullersucht zusammen: Wenn Du unruhig wirst und nach ihm verlangst, murmelst Du, sobald Du ihn bekommen hast, glücklich und erleichtert: „Gullygullygully“. Etwas wie Mama ist aufgetaucht, aber auch etwas wie Papa, allerdings eher ein Babababa, was ich meinen unbeirrten Versuchen zuschreibe, Dir das mich bezeichnende Wort einzuflüstern.
Deine Krabbelvorbereitungen sollten bald abgeschlossen sein. Du kniest Dich hin, stützt Dich auf den Händen ab, wippst vor und zurück, als wolltest Du das Terrain testen. Wenn Du auf dem Boden liegst, schiebst Du Dich bereits nach hinten. Wie es vorwärts ginge, führt Dir Deine Mutter seit Monaten vor. Jetzt warte ich auf ein Video Deiner Berliner Großeltern, das vom Durchbruch berichtet.
Unsere Koffer sind gepackt. Vor Corona hatten wir eine Einladung nach Franken angenommen, wo Dein Vater ein Theaterstück schreiben soll, in dem Deine Mutter mitspielen wird. Wir sprechen schon von unserem kleinen Familienzirkus. Wer weiß, welche Rolle Du in zwei Jahren, wenn das Stück auf die Bühne des Bergwaldtheaters gebracht werden soll, einnehmen wirst. Das ist der erste Brief an Dich, den ich ohne Nebengeräusche und Unterbrechungen schreibe. Er ist auch der erste, den ich Dir vorm Abschicken nicht vorlesen kann Genie