Wofür wir geprügelt werden
Kein Selbstbehalt!“, schwor ein Manager der neuen Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) vor einiger Zeit in der „ZiB 2“dem Starmoderator. Tatsächlich gibt es den Selbstbehalt längst: die Wahlärzte. Für die Reichen? Nein, für uns alle, vom Greis bis zum Kind. Ja, ein wenig Kleingeld muss man schon haben, wenn man sich einen Wahlarzt leisten will, die feine Ordination und die Zeit, die der Doktor dem Patienten widmet, wollen finanziert werden. Eine Vermutung: Kassenärzte müssen sich dumm vorkommen, wenn sie für einen Bettel Leute behandeln. Die Patienten denken: Beim Kind und beim Opa wird man nicht sparen. Manchmal sind Oma und Opa betuchter als die junge Familie, also zahlen sie den Wahlarzt für das Kind.
Wer zu Beginn von Corona einen Arzt brauchte, der staunte: auf dem Land keine Ordination offen. Der vom Hexenschuss Geplagte ruft die Notfall-Hotline an und beantwortet dort Fragen: Haben Sie Husten? Haben Sie Schmerzen in der Brust? Haben Sie Fieber? Nein! Kreuzschmerzen! Nehmen Sie Schmerzmittel. Es gibt aber fast keine mehr in der Apotheke ohne Rezept. Ja, unser Gesundheitssystem hat in der Krise Großes geleistet, keine Frage. Aber einiges läuft hier gar nicht mehr rund.
Zum Beispiel eben im Wahlarztsystem: Die Refundierung eines meist geringen Teils des Arzthonorars durch die Krankenkasse dauert Monate, diese Bestätigung ist aber die Voraussetzung dafür, dass die Privatversicherung zahlt. Seit der Kassenfusion scheint alles noch länger zu dauern. Und die Vorschriften, was auf den Rechnungen zu stehen hat, wurden verschärft. Viele Ausgaben wurden ganz gestrichen, für Brillen, Zähne sowieso und die Kuren. Selber zahlen macht froh.
Die Kassenfusion sollte große Ersparnisse bringen, so wurde versprochen. Noch merkt man nichts davon. Aber bald, schwören Fachleute. Andere diagnostizieren: Die Defizite steigen. Schuld sind immer die anderen, die SPÖ sagt, die ÖVP und die schwarzblaue Koalition hätten das Übel verursacht, die ÖVP sagt, die Misswirtschaft der SPÖ sei schuld an der Krise. Die Wahrheit wird wahrscheinlich in der Mitte liegen.
Apropos Mitte. Der Mittelstand hat den Ruf, wohlhabend zu sein. Das ist erstaunlich bei den vielen Vampiren, die an ihm zehren. Wohnungen, Häuser, Mieten werden immer teurer. Ebenso das Bildungssystem (Privatschulen), desgleichen das Gesundheitssystem (Privatärzte und Krankenhäuser), und das Pensionssystem kracht auch wie die sprichwörtliche Kaisersemmel, obwohl wir alle seit Jahrzehnten brav unsere Steuern und Beiträge zahlen. Irgendetwas stimmt da nicht.
Man hat uns erklärt, wir müssen später in Pension gehen, damit wir dem Staat nicht zur Last fallen. Wir versuchen, das so gut es geht zu machen, aber besser für den Staat und damit für unsere Finanzen ist dadurch noch nichts geworden. Wer zum Beispiel einerseits in Pension ist, andererseits arbeitet, muss aufgrund der Progression mit kräftigen Steuernachzahlungen rechnen. Klar, er oder sie verdient ja auch gut. „Ich zahle gern Steuern“, sagt meine Ärztin und: „Wenn Sie keine Steuern zahlen wollen, dann siedeln Sie doch in ein Entwicklungsland um. Dort gibt es keine Straßen und keine Universitäten, die erhalten werden müssen.“Ich möchte ihr entgegnen: „Liebe Doktorin, Sie irren, auch ich zahle gern Steuern. Ich bin viel herumgekommen in der Welt und weiß, was es bedeutet, in einem halbwegs geordneten Gemeinwesen zu leben. Aber: Ich möchte nicht so viel Steuern zahlen. Die Steuern erscheinen mir zu hoch, speziell, wenn ich an Spesenskandale gewisser Politiker denke.“Was auch störend ist: Wir bekommen keine Zinsen für unsere Ersparnisse. Man erklärt uns, wir müssen auf Zinsen verzichten, denn wenn die Zinsen steigen, steigt die Inflation, und dann gibt es die Gefahr eines Crashs: womöglich global. Gibt es die nicht sowieso?
Faktum ist, dass unsere Ersparnisse durch diese Art Finanzpolitik jedes Jahr weniger werden, nicht nur, weil wir keine Zinsen bekommen, sondern weil auch noch die Inflation, wenngleich niedrig, zu Buche schlägt. Kauft doch Aktien, Leute!, sagen die Berater Na sicher damit das schrumpfende eine Wirtschaftskrise ausgelöst hat. Der Staat hilft, lesen wir. Das Geld kommt bei vielen aber nicht an. Und das Gelddrucken destabilisiert vermutlich das Finanzsystem weiter, was sich ebenfalls auf unsere Ersparnisse auswirkt.
Wer spart, ist sowieso dumm. Unser System ist auf Krediten aufgebaut. Und die sind super billig. Neulich flatterte mir ein Angebot für einen Kredit auf den Schreibtisch, 100.000 Euro kosten im Jahr angeblich nur 1600 Euro Zinsen. Aber soll ich mit meinen Anfang 60 mich wirklich mit einer Schuld belasten, die erst nach 25 Jahren getilgt ist? Oder von meiner Tochter getilgt werden muss? „Kommt überhaupt nicht infrage“, sagt die Tochter. Sie zieht von WG zu WG, an eine eigene Wohnung ist nicht zu denken. Nicht einmal wir Babyboomer, Kinder, die ungefähr zwischen 1946 und 1964 geboren sind, konnten so viel auf die Seite legen.
Wer sind wir überhaupt? Was macht uns eigentlich aus? Babyboomer sind im Vergleich mit vielen heute jungen Menschen mit einem fast unvorstellbaren Optimismus ausgestattet. „Können wir Zuversicht lernen?“, fragte neulich die Illustrierte „Brigitte Woman“. Das mussten wir nicht. Wir dachten, die Welt gehört uns, wir werden sie gestalten, und es wird nie wieder Krieg geben. Nicht in Europa und sonst auch nirgends. Das war ein schwerwiegender Irrtum. Wir dachten auch, die sexuelle Revolution sei super. Dann kam Aids. Und ja: Die Wegwerfgesellschaft war schon in den 1980ern ein Thema, aber es fiel uns dennoch nicht so auf, dass die Coloniakübel zu Containern und die Container zu Mülltrennungssystemen wurden, die ständig überfüllt sind.
Wir prügelten auf unsere Nazi-Eltern ein, selbst wenn sie nur Mitläufer waren. Überhaupt bewältigten wir die Vergangenheit, wir bewältigten sie und bewältigten sie und bewältigten sie. Aber hat das wirklich so viel gebracht? Gibt es nicht neue unvorstellbare Grausamkeit in der Welt, gegen Kinder, gegen Zivilisten? Und jetzt beziehen wir Prügel von unseren Kindern, weil wir angeblich alles verschmutzt und versaut haben. Sollten wir alle nicht lieber die Kirche im Dorf lassen? Zum Beispiel in jenem Kärntner Dorf, aus dem meine Großmutter stammt. Sie lief ihrem Vater und seinem Wirtshaus davon und heiratete in Zürich einen russischen Revolutionär. Drei Kinder der beiden starben, weil kein Geld für Ärzte da war. Juliane Egger, so hieß meine Großmutter, ging nach Kärnten zurück. Dort wurde meine Mutter 1923 als Tochter eines Polizisten unehelich geboren. Ihr Vater bekannte sich nie zu ihr. Er zahlte auch nichts.
Die Ersparnisse meiner Oma, die nach dem Erben von ihrem Wirtshaus Papa so von ihr in die Hand. „Vielleicht sollte ich mich umbringen?“, schrieb sie angesichts der schlechten Wirtschaftslage in den 1920ern. Aber, so fragte sie: „Was wird dann aus meinem kleinen Mäderl?“Oder wollte sie sich und das Kind töten – und sie hat sich nur nicht getraut, es aufzuschreiben?
Die Situation vieler Menschen, Frauen und Männer, ist heute so verschieden von der unserer Vorgenerationen, dass es fast unvorstellbar ist: gleichberechtigte Partnerschaft, zumindest der Vorsatz dazu, Möglichkeit zum Studium für beiderlei Geschlecht, eine gewisse soziale Sicherheit, Kinderbetreuung. Manche Medien heizen allerdings den Generationenkonflikt an. Der Tenor lautet: Beißt endlich ins Gras, ihr Babyboomer, und bedroht uns nicht mit euren Pflegekosten. Alte Geldsäcke, gebt endlich etwas ab, am besten gleich den Löffel.
Aber das ist nur eine Seite der Wahrheit. Es gibt auch eine neue Freundlichkeit zwischen den Alten und den Jungen. Man bespricht Probleme, man skypt wie jetzt in der Corona-Krise. Die Jungen erklären den Alten die Technik die Alten sind neugierig
Leben der Jungen ein. Man lernt voneinander. „Es gibt einen neuen, vernünftigen, urbanen Menschen, der Herr Karl ist tot“, meinte eine Autorin angesichts der CoronaKrise. Hoffentlich, wer weiß. Es gibt auch Aggressionen von rechts, die früher undenkbar waren.
Wie wird es weitergehen? Abseits von Alarmismus und Schwarzmalerei: Der Mittelstand, das sind wir, die nicht unter der Brücke schlafen. Drei Villen haben wir nicht, aber einen Zweitwohnsitz. Der Mittelstand, das sind die langweiligen Spießer, über die sich nicht nur Brecht das Maul zerrissen hat, das sind die öden Durchschnittsmenschen, die jeden Schilling und jeden Euro seit Jahrzehnten beiseitelegen, damit es ihre Kinder besser haben. Diese Message haben sie von ihren Eltern und Großeltern mitbekommen.
Mein erstes Taschengeld waren zehn Schilling. Als ich begann, Zeitung zu lesen, habe ich nie verstanden, warum der Staat Millionen braucht und immer mehr ausgibt, als er hat. Ich musste mit meinen zehn Schilling (später wurde es mehr) auskommen.
Das finden Sie naiv, richtig? Ich finde, der Staat könnte sich von Kindern und Erwachsenen eine Scheibe abschneiden, die sich bei jeder Ausgabe überlegen, ob sie notwendig ist. Das passiert nämlich keineswegs. Und wenn, dann zu einem Zeitpunkt, wo alles schon völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Wie beim Pensionssystem und jetzt bei der Gesundheitskasse.
Wir Babyboomer haben stattliche Summen in diese Systeme investiert. Am Ende bekommen viele von uns viel weniger Pension heraus als versprochen und vor allem viel weniger, als wir eingezahlt haben. Ja, der Mittelstand in Österreich ist verhältnismäßig wohlhabend. Aber er hat auch viele Verpflichtungen. Für studierende Kinder, Immobilien wollen erhalten werden und ein paar Reisen sollen sich auch noch ausgehen. Wer jetzt ruft: „Ihr müßigen Egoisten!“, entlarvt sich als Neider, und der Neid ist ein starkes Motiv in diesem Land. Viele von uns haben jahrzehntelang gearbeitet und ihre Krankheiten vor dem Boss versteckt. Ob die junge Generation mit ihrer Sensibilität gegen zornige Chefs (dürfen die das überhaupt noch, wüten?), ihrer Work-Life-Balance und ihrer Burn-out-Gefährdung Jahrzehnte in Absicherungssysteme einzahlen wird, die sich für ihre Eltern und Großeltern als brüchig herausgestellt haben? Es schaut nicht so aus. „Mama, geh lieber arbeiten, ich bleib bei meinem Kind“, erklärte ein Sohn seiner Anwaltsmutter, die war sogar ganz froh, weil sie lieber Fälle ihrer Klienten analysiert, als Grießbrei zu kochen.
„Mei Tochter, mei Tochter soll’s besser haben als i“, sang einst Cissy Kraner. Das ist es, was wir uns wünschen für unseren Nachwuchs (natürlich beiderlei und jedweden anderen Geschlechts). Sollte es unseren Nachkommen in ähnlichem Ausmaß