Würfeluhr, Kiosk und Reklame
Was für furchtbar schwerwiegende Wiener Jahre sind das gewesen! Noch nie und nirgends hat sich wohl eine große Stadt, ein ganzer Menschenschlag in einer kurzen Zeit so gründlich verändert.“Die Ausgangslage war nicht gerade einfach, wie der renommierte Journalist und Zeitdiagnostiker Ludwig Hirschfeld um 1920 unmissverständlich feststellte. Als Zentrum eines europäischen Großreiches war Wien noch zwei Jahrzehnte zuvor eine der führenden Metropolen Europas gewesen. In rasendem Tempo hatte man die Zwei-Millionen-Einwohner-Grenze erreicht, war man zur viertgrößten Stadt des Kontinents und international anerkannten Weltstadt geworden. Eine dynamische Entwicklung, die durch den Ersten Weltkrieg jäh gestoppt worden war.
Die Folgen dieser epochalen Zäsur können rückblickend gar nicht hoch genug bewertet werden. Es war eine traumatische Erfahrung – in jeder Hinsicht: sozial, wirtschaftlich, kulturell, und natürlich auch aus städtebaulicher Perspektive. Aus der mächtigen kaiserlichen Reichshaupt- und Residenzstadt war die Kapitale eines republikanischen Kleinstaates geworden. Keine andere europäische Stadt hatte eine derart grundlegende Transformation zu bewältigen: Neue demokratische Strukturen waren zu schaffen, neue Verwaltungseinheiten, eine moderne Infrastruktur, ganz abgesehen vom höchst notwendigen Kampf gegen Hunger, Armut und Not.
Und das Elend war gewaltig. Die glanzvolle Metropole hatte sich in den letzten Kriegsjahren in eine schmutzige, finstere, sterbende Stadt verwandelt, mit Tausenden Flüchtlingen, Mangelwirtschaft, Unterernährung, Krankheiten und Tod; die Mortalitätsrate lag um ein Vielfaches höher als in Berlin, Paris oder London. Aus der ganzen Welt kamen Journalisten angereist und berichteten ergriffen von dem einzigartigen urbanen Desaster, das sie vorfanden.
Die Stadt musste sich neu (er)finden. Ein erster wesentlicher Schritt dazu war die Trennung Wiens von Niederösterreich. 1920 beschlossen und Anfang 1922 in Kraft getreten, wurde Wien zum eigenen Bundesland mit deutlich mehr Gestaltungsspielraum als zuvor. Die Sozialdemokratische Partei war als führende politische Kraft aus den Wahlen hervorgegangen, ihr oblag es nun, das gewaltige Erneuerungsprogramm in Angriff zu nehmen. Das „Rote Wien“sollte zur neuen Identität der Stadt werden. Dazu gehörte neben der bekannten Wohnbauinitiative und zahlreichen sozialen und fürsorglichen Impulsen auch eine Verwaltungsreform und die Neuregelung der Stadtplanung.
Letztere war als Disziplin noch relativ jung. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte sie sich, parallel zum Aufstieg des liberalen Bürgertums, als Wissenschaft etabliert und in den kommunalen Verwaltungen verankert. In Wien war erstmals 1898 eine eigene Abteilung für Stadtregulierung geschaffen worden, aus der nun, 1920, die neu geschaffene Magistratsabteilung 18 (Stadtregulierung und Gartenwesen, Bauberatung) hervorging. Zu ihrer zentralen Agenda gehörte die Verabschiedung von sogenannten Regulierungsplänen, kurzum: die planvoll-geordnete, nicht nur dem freien Spiel des Kapitals überlassene Entwicklung der Stadt.
Die Rahmenbedingungen dafür hatten sich radikal geändert. Die einstige, noch von Otto Wagner gehegte Vision, dass Wien künftig an die vier Millionen Einwohner haben werde, war obsolet geworden. Die Einwohnerzahl schrumpfte kontinuierlich und sollte schon bald nur mehr 1,8 Millionen betragen. Das räumliche Umfeld, aus dem sich die Metropole einst – demografisch wie ökonomisch – speiste, gab es nicht mehr. Große städtebauliche Vorhaben wie der U-Bahnbau, die Errichtung des Donau-Oder-Kanals oder die Elektrifizierung der Stadtbahn waren ins Stocken geraten und konnten nicht mehr umgesetzt werden. Allein die gut funktionierende technische Infrastruktur war geblieben und stellte sodann jenes Fundament dar, auf dem das „Rote Wien“sein Wohlfahrtsprogramm starten konnte.
Wenn auch weiterhin auf öffentlichen Repräsentationsgebäuden die Kaiserkrone prangte und damit die imperiale Vergangenheit im Stadtbild präsent war, wurde in den folgenden Jahren das republikanische Wien doch zunehmend sicht- und spürbar. Mitte der Zwanzigerjahre konnte man bereits erfolgreich Zwischenbilanz ziehen und stolz auf den Imagetransfer der Stadt verweisen. Es herrschte Aufbruchstimmung.
Nicht nur die Physiognomie, auch die Atmosphäre der Stadt veränderte sich. Technisierung und Beschleunigung begannen den urbanen Alltag zu prägen. Im öffentlichen Raum avancierte der Verkehr zum Inbegriff des modernen Lebens. Immer weniger Pferde und Pferdefuhrwerke, immer mehr Automobile, Autobusse und Motorräder durchquerten die Stadt. 1926 wurde an der Opernkreuzung Wiens erste Verkehrsampel installiert. Ebendort wurden erstmals auch markierte Fußgeherstreifen auf der Fahrbahn angebracht, an anderen Orten verordnete man Kreisverkehre und Einbahnen. Straße und Gehsteig wurden deutlicher voneinander getrennt, alles im Dienste einer effizienten Organisation des Verkehrsgeschehens, das an Dichte und Tempo beständig zunahm.
Als Transportmittel für die Massen diente allerdings nach wie vor die Straßenbahn.
Ihr ausgedehntes Netz entwickelte sich zum Rückgrat des öffentlichen Verkehrs. Lücken wurden geschlossen, man trieb die Elektrifizierung voran, verdichtete die Intervalle und – vor allem – verbilligte die Tarife. Die Beförderungszahlen stiegen sogleich sprunghaft, Wien wurde zur Straßenbahnstadt par excellence – mit internationaler Vorbildwirkung.
Auch die Stadtbahn wurde endlich elektrifiziert und 1925 neu eröffnet. Ein weiteres attraktives Massenverkehrsmittel war entstanden. Die Mobilität der Stadtbewohner stieg kontinuierlich und verlagerte sich immer mehr vom Gehen zum Fahren.
Die Gestaltung des öffentlichen Raumes wurde den neuen Verhältnissen angepasst. Fahrbahn- und Gehsteigflächen, die im Krieg arg in Mitleidenschaft gezogen worden waren, wurden instand gesetzt. Die Befestigung der Straßen erfolgte nunmehr verstärkt durch Kleinsteinpflaster, Asphalt sowie Makadambeläge. Oberste Ziele waren die Gewährleistung der Verkehrszirkulation und die Verbesserung der Straßenhygiene. Gestank, Schmutz und Staub, einst vielgeschmähte Geißel der Großstadt, sollten durch möglichst glatte Oberflächen sowie forcierte Reinigung und Bespritzung der Straßen hintangehalten werden. Die moderne Stadt war – internationalen Vorbildern gemäß – eine hygienische Stadt. 1925 wurde denn auch im Messepalast eine große Ausstellung eröffnet, die sich dem Thema Hygiene in all ihren Facetten widmete.
Dem Diktum der Sauberkeit trug auch die Einführung eines neuen Straßenmöbels Rechnung: Ab 1924 wurden rund 6000 „Abfallsammelkörbe“aufgestellt. Die zylindrischen, aus durchbrochenem Eisengitter geformten Behälter waren an den Masten von Beleuchtungskörpern oder Verkehrsschildern montiert, darüber wies ein Schild mit der Aufschrift „Abfälle nicht wegwerfen, sondern . . .“auf den unmissverständlichen Zweck derselben hin. Die Wiener Polizei war angewiesen, Zuwiderhandelnde konsequent zu bestrafen. Für viele ein ungewohnt strenges Gebot, wie Ludwig Hirschfeld anmerkte, für den Wien nun eindeutig „im amtlichen Zeichen des Papierkorbes“stand.
QParallel dazu erfuhr auch die hausbezogene Müllentsorgung eine Modernisierung. Tausende Coloniakübel wurden ab 1923 in den Höfen aufgestellt, das System der staubfreien Müllabfuhr wurde flächendeckend im Stadtgebiet eingeführt und bereits fünf Jahre später weitgehend abgeschlossen. In relativ kurzer Zeit war Wien somit deutlich sauberer und gesünder geworden.
Der öffentliche Raum präsentierte sich immer mehr im Gewand der Moderne. Zwar war er schon seit dem 19. Jahrhundert mit standardisierten Requisiten wie Bänken, Brunnen, Bedürfnisanstalten, Beleuchtungskörpern oder Reklametafeln ausgestattet worden. Eine erneute Verdichtung und Nachjustierung schien jedoch vonnöten. Das neue Stadtmobiliar stand nun nicht nur im Zeichen der Hygiene, sondern diente vor allem der Kommunikation.
Tausende Plakatwände und über 300 Litfaß- und Reklamesäulen bescherten Wien schon bald einen internationalen Spitzenplatz auf dem Gebiet der Außenwerbung. Diese lag zum überwiegenden Teil in den Händen der Städtischen Ankündigungsunternehmung (Gewista), die 1921 gegründet und zwei Jahre später um die Tochterfirma Wipag erweitert worden war. Wobei sich die enorme Reklamedichte insbesondere in der Innenstadt und entlang der Ringstraße manifestierte.
Hier konnte man auch immer häufiger auf öffentliche Fernsprechanlagen treffen. Die Zahl der Telefonzellen, im modernen Look des Modells „Kiosk“, sollte sich sukzessive im ganzen Stadtgebiet verteilen. Gleiches galt für die öffentlichen Uhren, die in Form der Würfeluhr zum bestimmenden kommunalen Zeitanzeiger avancierten. Sie steckten das Wiener Territorium gleichsam chronometrisch ab und wurden so zum Symbol für den unbeugsamen Takt urbanen Lebens, aber auch ganz generell für den Anbruch einer neuen Zeit.
PETER
PAYER
Geboren 1962 in Leobersdorf, Niederösterreich. Historiker und Stadtforscher. Kurator im Technischen Museum Wien Bücher: zu