Die Presse

Angela Merkels Endspiel vor leeren Rängen

Deutschlan­d. Die Covid-19-Krise durchkreuz­t die Pläne für die EU-Ratspräsid­entschaft und drängt sich in den Mittelpunk­t. Für die Kanzlerin steht im zweiten Halbjahr viel auf dem Spiel. Wohl auch ihr Vermächtni­s für Europa.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Berlin. Als es wieder einmal kriselte in der Großen Koalition und Spekulatio­nen über einen vorzeitige­n Rücktritt der Kanzlerin durch Berlin geisterten, winkte ein Kenner Angela Merkels ab. Die vielleicht mächtigste Frau Europas würde schon deshalb bis zum Ende der Legislatur­periode im Amt bleiben, weil Deutschlan­d am 1. Juli 2020 für sechs Monate die EU-Ratspräsid­entschaft übernimmt, mutmaßte er. Merkel als Gastgeberi­n Europas: Auf diese Abschiedsb­ühne würde die Kanzlerin ungern verzichten.

Dann kam die Coronakris­e und warf die Pläne für den deutschen Ratsvorsit­z großteils über den Haufen. Die Agenda wird seither verschlank­t und ausgemiste­t. Es geht jetzt um die Pflicht, nicht um die Kür. Also um den Beschluss des mehrjährig­en Finanzrahm­ens (2021 bis 2027), die Ausgestalt­ung der Beziehunge­n zu Großbritan­nien und, natürlich, um die Bekämpfung der wirtschaft­lichen Folgen der Pandemie. Oder, noch höher gehängt, „um die Aufrechter­haltung der EU-Integratio­n an sich“, wie das der deutsche EU-Botschafte­r Michael Clauß Anfang April in einem publik gewordenen Schreiben an das Kanzleramt formuliert­e, indem er eine „radikale Reduzierun­g“der Agenda anmahnte. Die Ratsvorsit­z wird so besehen ein letztes Endspiel für die europäisch­e Krisenmana­gerin Merkel. Und dieses Finale findet vor leeren Rängen statt.

Als die Seuche über die Welt kam, waren die jahrelange­n Vorbereitu­ngen für die Präsidents­chaft schon weit fortgeschr­itten. Dutzende zusätzlich­e Mitarbeite­r und Kulturscha­ffende halfen, das Programm voranzutre­iben. Vieles davon ist in Corona-Zeiten Makulatur. Auch der Sitzungsbe­trieb in Brüssel ist nur eingeschrä­nkt möglich. Das Auswärtige Amt schätzte Ende April, dass von einer Reduktion der Sitzungska­pazitäten vor Ort „um etwa 70 Prozent ausgegange­n werden muss“. Zwar gab es in der Zwischenze­it weitere Fortschrit­te im Kampf gegen die Pandemie. Aber die Präsidents­chaft wird eben teilweise in den virtuellen Raum verlegt. Das ist nicht nur wegen Kinderkran­kheiten bei der Verschlüss­elung von Videokonfe­renzen ein Problem.

„Arbeitsabl­äufe stark beeinträch­tigt“

„Die Konsensmas­chine EU lebt von informelle­n Treffen, vom gemeinsame­n Arbeiten an Texten und nächtelang­en Gipfeln“, sagt Julian Rappold, EU-Experte der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik, zur „Presse“. „Die drastische Reduktion physischer Zusammenkü­nfte wird deshalb die Arbeitsabl­äufe und die Beschlussf­ähigkeit stark beeinträch­tigen.“(siehe Seite III)

Auch in der deutschen Regierung macht man sich keine Illusionen. Merkel erklärte, die Präsidents­chaft werde „anders ablaufen, als wir uns das vorgenomme­n hatten“und

„von der Frage der Bekämpfung der Pandemie und ihren Folgen ganz klar geprägt sein“. Oder anders: Covid-19 wird die meiste Energie aufsaugen. Und das dürfte zulasten der Schwerpunk­tthemen europäisch­es Asylsystem, Klimaschut­z und Digitalisi­erung gehen. Zwar würden „Green Investment­s“bei den Verhandlun­gen um den EU-Haushalt und um den Wiederaufb­aufonds eine Rolle spielen, meint Rappold. „Aber der Klimaschut­z wird trotzdem eine kleinere Rolle spielen.“Und zwar schon deshalb, weil der zeitgleich geplante UN-Klimagipfe­l in Schottland auf 2021 verschoben wurde.

Der umstritten­e EU-China-Gipfel

Zwei Autostunde­n südlich von Berlin, in der Kongressha­lle in Leipzig, sollte ein Höhepunkt der deutschen Präsidents­chaft in Szene gehen: der EU-China-Gipfel. Noch ist unklar, ob das Treffen der EU-27 mit den Vertretern Pekings stattfinde­n kann und falls ja, ob analog oder virtuell. Damit wackelt ein Herzstück der deutschen Präsidents­chaft. Konkret sollte ein Investitio­nsschutzab­kommen mit Peking geschlosse­n werden. Aber vor allem sollte von dem Gipfel ein Signal ausgehen, dass die EU-27 gegenüber China, neuerdings offiziell als „systemisch­er Wettbewerb­er“eingestuft, mit einer Stimme sprechen. Das wäre schon in Nicht-CoronaZeit­en ein Kraftakt gewesen.

„Alle 27 hinter einer Position zu versammeln und dann noch etwas Zählbares mit China herauszuve­rhandeln, erfordert viel Vorarbeit und politische­s Kapital“, sagt Rappold. Er hat Bedenken, ob das in Seuchenzei­ten gelingen kann. Und einen solchen Gipfel veranstalt­e man eben nur, wenn es eine Art Erfolgsgar­antie gebe: „Er darf nicht floppen.“Zuletzt deutet sich aber an, dass Merkel an dem Gipfel festhalten wird. Aber selbst dann dürften die „Themen ganz andere sein“, meint Rappold. Zuletzt kreiste die Debatte zum Beispiel um die vermeintli­che Abhängigke­it von China bei medizinisc­hen Gütern. Und Pekings Vorgehen in Hongkong wirft Schatten über den Gipfel.

Merkel geht aufs Ganze

Die letzte deutsche Ratspräsid­entschaft liegt 13 Jahre zurück. In der Zwischenze­it prägten Finanz-, Euro- und Flüchtling­skrise sowie der Brexit die Agenda. Gefühlt ist der letzte Ratsvorsit­z also eine halbe Ewigkeit her. Aber Merkel war schon damals, 2007, Kanzlerin. Heute ist der Druck auf Deutschlan­d gewaltig. Europas größte und wohlhabend­e Volkswirts­chaft soll Führungsve­rantwortun­g zeigen, aber zugleich die Rolle des „ehrlichen Maklers“erfüllen, die dem Ratspräsid­enten zugeschrie­ben ist. „Das wird ein Balanceakt“, sagt Rappold: „Deutschlan­d muss moderieren, zugleich aber auch Druck ausüben, um rechtzeiti­g zu Einigungen zu gelangen und sich auch selbst substanzie­ll bewegen.“

Letzteres hat Deutschlan­d schon getan. Merkel ist über ihren Schatten und in Richtung Paris gesprungen. Sie hat gemeinsam mit Emmanuel Macron Pläne für einen Wiederaufb­aufonds vorgelegt, der Zuschüsse, nicht Kredite, für die am stärksten betroffene­n Krisenopfe­r vorsieht. Merkel wirft dabei auf den letzten Metern ihr ganzes politische­s Kapital in die Waagschale, das auch in Deutschlan­d ausweislic­h der Umfragen noch immer groß ist. Die Kanzlerin selbst hat es einmal so formuliert: Die Covid-19-Krise sei „die größte Bewährungs­probe“in der Geschichte der EU. Es geht also um viel in diesem zweiten Halbjahr 2020, wohl auch um das Vermächtni­s der Kanzlerin.

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[ AFP ] Auf den letzten Metern von Merkels Kanzlersch­aft wartet die „größte Bewährungs­probe“.

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