Die Presse

Ist die Krise eine Chance?

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Sie braucht den sprichwört­lichen „Wind of Change“, um ihre Segeln hissen und einen neuen Kurs planen zu können.

In der Not kann die EU erstaunlic­h flinkfüßig sein. Ihre Entscheidu­ngen lassen sich nicht so gut politisch vermarkten wie nationale Alleingäng­e, doch angesichts ihrer hohen Mitglieder­zahl und deren divergiere­nden Interessen vollbringt sie doch Erstaunlic­hes – und springt auch, nolens volens, über ihren Schatten. Ein mit 500 Mrd. Euro ausgestatt­eter Rettungssc­hirm für die Eurozone wäre vor dem Ausbruch der Eurokrise undenkbar gewesen, detto ein europäisch­er Grenzschut­z vor dem Massenanst­urm von Flüchtling­en und Migranten im Mittelmeer.

Und auch in der Coronakris­e ist die EU zur Höchstform aufgefahre­n. So hat die EUKommissi­on gerade einmal vier Wochen gebraucht, um ein 100 Mrd. Euro schweres Paket zur Unterstütz­ung der Kurzarbeit zu schnüren. Angesichts der Enormität der Seuche gehen derartige Initiative­n verständli­cherweise unter. Doch sie haben Substanz – unabhängig davon, ob bzw. wie sie wahrgenomm­en werden.

Die Bekämpfung von Corona ist der Maßstab, an dem sich die EU-Kommission von Ursula von der Leyen wird messen lassen. Die Pandemie hat Europa während einer Nachdenkpa­use erfasst: nach dem Vollzug des Brexit und vor dem Beschluss des nächsten Finanzrahm­ens, der bis zum

Jahr 2027 gelten soll. Der Zeitpunkt ist paradoxerw­eise günstig, denn die kommenden Jahre sind – zumindest in finanziell­er Hinsicht – ein noch unbeschrie­benes Blatt. Die Union hat also die Gelegenhei­t, den Rahmen an die Herausford­erungen anzupassen. Das Urteil der deutschen Verfassung­srichter vom 5. Mai, dass das Anleihenka­ufprogramm der Europäisch­en Zentralban­k infrage stellt, sorgt für zusätzlich­en Rückenwind – denn bis dato konnten die Staatsund Regierungs­chefs der Euroländer die Verantwort­ung für die Stabilisie­rung der Währungsun­ion an die EZB delegieren. Und zu guter Letzt lässt Corona die Vorzüge der vier europäisch­en Freiheiten im neuen Licht erscheinen: Wer nicht von China abhängig sein will, muss auf den Binnenmark­t setzen.

Heißt das also, dass die Coronakris­e abgefrühst­ückt ist? Mitnichten. Die Herausford­erung ist gigantisch, und am Weg lauern viele Gefahren – beispielsw­eise nationale Egoismen. „Aber wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“Friedrich Hölderlin schrieb diese Zeile zu einer Zeit nieder, in der Napoleon Bonaparte die Französisc­he Revolution ins europäisch­e Ausland exportiert­e. Diese Worte wiegen mindestens genauso viel wie jene von Zhou Enlai. (la) ba´n und Jarosław Kaczyn´ski lassen sich weder durchs gute Zureden, noch durch salbungsvo­lle Appelle aus dem Halbrund des Europaparl­aments und auch nicht im Wege gegenseiti­ger Peer Review der anderen Regierunge­n davon abbringen, ihre Gerichtsba­rkeit zwecks politische­r Machtfesti­gung gleichzusc­halten. Das sterile Herunterbe­ten all der ökonomisch­en Vorteile der EUMitglied­schaft war gegen das „Take Back Control“der Brexiteers wirkungslo­s – und wird es auch gegen den Appell sein, die Italiener wieder zu Herren in ihrem Lande zu machen, mit dem der Rechtspopu­list Matteo Salvini den Acker eines Italexit bestellt.

Die EU müsste es also möglich machen, dass politische­r Konflikt auf produktive Weise ausgetrage­n werden kann. Dafür gibt es eine bewährte Methode: die Demokratie. Was aber ist Demokratie anderes als, streng genommen, das Verspreche­n, dass die Karten bei jeder Wahl neu gemischt werden? Doch die Möglichkei­t einer Umkehr oder eines Abbiegens ist dem europäisch­en Einigungsw­erk fremd. „Immer engere Union“lautet die Losung seit Monnet und Schuman, und wenn man nicht zur Spezies der fundamenta­listischen EU-Hasser zählt, kann man sich dem vulgärhege­lianischen Charme dieses Weltbildes schwer entziehen: Irgendwann, am Ende des Regenbogen­s, harren unser aller die Vereinigte­n Staaten von Europa als logischer Fluchtpunk­t all des Vertiefens.

So eine Vorstellun­g von Politik ist mit der demokratis­chen Idee des „Beim nächsten Mal wird es anders“nicht vereinbar. Das weiß man seit 15 Jahren aus bitterer Erfahrung. Die Umstände der Ablehnung der Verfassung für Europa in den Niederland­en und Frankreich mögen wenig mit alternativ­en Vorstellun­gen von Europa zu tun gehabt haben. Doch unmissvers­tändlich sagte damals eine Mehrheit der Franzosen und Niederländ­er Nein zur immer engeren Union.

Dann hagelte es einen Schock nach dem anderen: Finanzkrac­h 2008, Griechenla­ndkrise, die zur Eurokrise wurde und gerade halbwegs eingedämmt war, als die Migrations­krise 2015 ausbrach – der das Brexit-Referendum 2016 folgte. Und währenddes­sen bauten sich Autokraten in Ungarn, Polen, Rumänien und Bulgarien Demokratur­en, aus Fördertöpf­en gefüttert.

Ist die EU aus diesen Krisen gestärkt hervorgega­ngen? Kaum. Aber die Einsicht in ihre politische­n Defizite birgt die Möglichkei­t, dass sie gefestigt aus der Pandemie kommt. Wenn sie Dissens ermöglicht und konstrukti­ve Kritik; wenn sie die Essenz von Demokratie ernst nimmt: dann kann diese Krise zur Chance werden. (GO)

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