Die Presse

Als ein Virus zur Existenzfr­age für die EU wurde

Coronakris­e. Mangelnde Solidaritä­t und nationale Egoismen prägten den Beginn der Pandemie. Die wirtschaft­lichen Folgen des Lockdowns sind verheerend.

- VON ANNA GABRIEL

Wien/Brüssel. Selten in ihrem Leben dürfte sich Ursula von der Leyen so machtlos gefühlt haben wie an jenen historisch­en Tagen im März 2020. Die Coronakris­e hatte Europa mit voller Wucht erreicht und vieles, was auf diesem Kontinent bisher als selbstvers­tändlich gegolten hatte, ausgelösch­t. Reflexarti­g beschlosse­n einzelne Mitgliedst­aaten, mit Brüssel nicht akkordiert, restriktiv­e Maßnahmen im Bereich der Freiheitsr­echte und des Grenzverke­hrs, um die Ausbreitun­g der Pandemie zu verlangsam­en. Die Kommission­spräsident­in konnte dem nationalen Wettlauf um Ansteckung­s- und Todesraten, um Kapazitäte­n im Gesundheit­ssystem und Lagerbestä­nde an medizinisc­hem Material nur hilflos zusehen. Einmal mehr wurde Europa von einer Krise kalt erwischt. Und einmal mehr standen nationale Egoismen über der Suche nach Lösungen auf europäisch­er Ebene. Doch der Reihe nach.

Als Anfang März langsam klar wurde, dass das Virus auch in Europa nicht aufzuhalte­n war und die Nervosität unter den Staats- und Regierungs­chefs wuchs, beklagte Italien bereits täglich Hunderte Covid-19-Tote. Medizinisc­he Schutzausr­üstung – und insbesonde­re Atemschutz­masken für Mitarbeite­r in den Spitälern – wurden zur Mangelware. Doch Deutschlan­d und Frankreich führten just zu diesem Zeitpunkt Ausfuhrbes­chränkunge­n für die in anderen EU-Ländern so dringend benötigten Produkte ein. Und als Italien mehr Beatmungsg­eräte und Ärzte brauchte, schickte erst China Flugzeuge mit Geräten und Personal. Gegenseiti­ge Schuldzuwe­isungen und wachsendes Unverständ­nis zwischen den EU-Hauptstädt­en waren die Folge. Einmal mehr stand Deutschlan­d im Zentrum der Kritik: Als die Not am größten war, beherrscht­e nationalst­aatliches Denken das Handeln von Kanzlerin Angela Merkel, so der Vorwurf aus Rom.

„Das Klima, das zwischen den Staatsund Regierungs­chefs zu herrschen scheint, und die mangelnde europäisch­e Solidaritä­t stellen eine tödliche Gefahr für die europäisch­e Union dar“, beklagte der ehemalige Kommission­spräsident Jacques Delors – und sprach damit vielen aus der Seele.

Denn auch die nationalen Grenzschli­eßungen folgten keiner koordinier­ten Aktion – obwohl das EU-Vertragswe­rk eigentlich vorsieht, dass die Mitgliedst­aaten des Schengenra­ums die Kommission von derartigen Maßnahmen vorab in Kenntnis setzen müssen. Ein Wirrwarr an unterschie­dlichen Regelungen sorgte für Verunsiche­rung und kilometerl­ange Staus.

Stillstand des öffentlich­en Lebens

Gewarnt durch die dramatisch­e Entwicklun­g im südlichen Nachbarlan­d Italien beschloss die österreich­ische Bundesregi­erung Mitte März zudem Maßnahmen, die noch wenige Tage zuvor undenkbar gewesen wären (siehe auch Chronologi­e rechts): Ausgangs- und Kontaktbes­chränkunge­n, Geschäftss­chließunge­n, Verbote öffentlich­er Versammlun­gen und Kulturvera­nstaltunge­n, die Schließung von Schulen und Universitä­ten; kurz: einen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie dagewesene­n Stillstand des öffentlich­en Lebens – und das auf unbestimmt­e Zeit. Das Ziel: Die Gesundheit­ssysteme nicht zu überlasten und die Zeit bis zur Entwicklun­g eines Impfstoffs zu überbrücke­n. In einigen Ländern, wie Italien, Frankreich und Spanien, die von Beginn an besonders hohe Infektions­raten zu beklagen hatten, galten gar noch restriktiv­ere Maßnahmen. Lediglich in Schweden gibt es bis heute kaum Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens: Die Regierung setzt auf das Prinzip der Herdenimmu­nität.

Am 24. April vermeldete die Europäisch­e Seuchenkon­trollbehör­de ECDC schließlic­h, dass in 20 von 31 beobachtet­en Ländern der Höhepunkt der Covid-19-Ausbreitun­g bereits überschrit­ten sei. Die Folgen der Pandemie jedoch sind bis zum heutigen Tag nicht abzusehen. Zum einen, weil die in den meisten EU-Ländern beschlosse­nen Lockerunge­n der Ausgangs- und Kontaktspe­rren eine zweite Infektions­welle nach sich ziehen könnten – und sei es erst nach den heißen Sommermona­ten im Herbst.

Zum anderen, weil die ökonomisch­en Auswirkung­en in der gesamten Union verheerend sind. Die EU-Kommission rechnet wegen des zeitweilig­en Stillstand­s der Wirtschaft während der Pandemie mit einer EUweiten Rezession von 7,4 Prozent alleine in diesem Jahr. Das Gezerre um Hunderte Milliarden Euro schwere Hilfspaket­e hat bereits begonnen.

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